Zwei Ukrainerinnen erzählen
10.02.2022 FrickÜber Krieg, Geschichte und immer mehr Streit
Kein Tag vergeht derzeit ohne Nachrichten aus dem Kriegsgebiet Donbas im Osten der Ukraine an der Grenze zu Russland. Die NFZ unterhielt sich mit zwei Ukrainerinnen, die hier in der Region leben, über die besorgniserregende Situation.
Simone Rufli
Tanja Wilhelm und Oksana Spring leben seit vielen Jahren in der Schweiz. Wilhelm im oberen Fricktal, Spring in der Region Basel. Im Gespräch mit der NFZ – zu dem die beiden Frauen bereit waren, obwohl es sie emotional stark forderte – zeigte sich eindrücklich: Nicht nur die unterschiedliche Herkunft innerhalb der Ukraine, auch die sechs Jahre Altersunterschied haben sie ihre Kindheit und das junge Erwachsenenalter in der Ukraine unterschiedlich erleben lassen. Für Wilhelm war die Sowjetunion noch gelebter Alltag, für Spring kaum mehr von Bedeutung.
So unterschiedlich ihre Ansichten über die bisherige Entwicklung der seit 30 Jahren unabhängigen Ukraine zum Teil sind, gemeinsam ist ihnen jetzt die Sorge um die Freiheit und Eigenständigkeit ihres Heimatlandes. Sorgen bereitet ihnen zunehmend auch das Verhältnis zwischen den Menschen aus Ländern der ehemaligen Sowjetunion hier bei uns in der Region. Kommt Politik ins Spiel, komme es schnell zu Streit.
Aufgewachsen in einem Land, über das andere bestimmen
Wie Ukrainerinnen aus der Region den Krieg erleben
Tanja Wilhelm und Oksana Spring – beide in der Region daheim – waren bereit, über die Geschehnisse in ihrem Herkunftsland zu reden. Auskunft geben, finden sie wichtig, weil die Ukraine im Fokus der Weltöffentlichkeit steht. Leicht gefallen ist ihnen das Gespräch gleichwohl nicht. Auf Fotos wurde verzichtet.
Simone Rufli
Es ist ein aufwühlendes Gespräch, zu dem Tanja Wilhelm an diesem Morgen im Büro der NFZ erscheint. Die 48-Jährige aus der Hauptstadt Kiew durchlief die Schule zu einer Zeit, als die Ukraine noch zur Sowjetunion gehörte. Ihre Muttersprache ist russisch. Sie studierte Sport in der Ukraine und in Deutschland, dazu im Nebenfach osteuropäische Geschichte. Seit vielen Jahren lebt sie mit ihrem Mann und den Kindern im oberen Fricktal. Ihre Mutter lebt ebenfalls in der Schweiz, die Schwester in Frankreich. In die Ukraine reiste sie das letzte Mal vor drei Jahren.
Begleitet wird Tanja Wilhelm von Oksana Spring. Die 42-jährige Ärztin aus Sarny, einer Kleinstadt mit 30 000 Einwohnern im Westen der Ukraine, erscheint in ukrainischer Tracht. Die Sowjetunion ist für sie nicht mehr als eine schwache Erinnerung. Oksana Spring hat in Lviv (Lemberg), rund 70 Kilometer von der polnischen Grenze entfernt, Medizin studiert. Ihre Muttersprache ist Ukrainisch. Seit zehn Jahren lebt sie in der Region Basel.
Für das Treffen mit der NFZ hätte Tanja Wilhelm den Kreis der Gesprächsteilnehmerinnen gerne noch weiter gefasst, doch immer weniger Ukrainerinnen und Ukrainer würden sich überhaupt noch zum Krieg in ihrem Heimatland äussern wollen. Oft sei die Angst um die Angehörigen in der Heimat so gross, dass allein das Gespräch über die bedrohliche Situation eine zu grosse emotionale Belastung bedeute, erklärt Wilhelm.
Optimismus und Skepsis
Oksana Spring besucht ihre zahlreichen Verwandten im Westen der Ukraine jedes Jahr, freut sich über kleinere und grössere Entwicklungsschritte im Land, über gewonnene Freiheiten und Modernisierungen. «Step by step», Schritt für Schritt, so hofft sie, werde sich die Ukraine zu einem europäischen Land entwickeln. «Europa», sagt sie und lächelt, «steht für uns symbolisch für Freiheit.»
Ein Optimismus, den Tanja Wilhelm nicht zu teilen vermag. Sie blickt mit Skepsis und einer gewissen Traurigkeit auf die Entwicklungen in der Ukraine. «Die Korruption», sagt sie, «ist noch immer allgegenwärtig.» Und jetzt ist auch die Freiheit bedroht. Noch näher zu Europa werde Russland die Ukraine nicht lassen, sagt Spring und diesmal stimmt ihr Wilhelm zu – «niemals», sagen beide, werde Russland das zulassen. Gleichzeitig sei es sehr unwahrscheinlich, von der Nato aufgenommen zu werden.
Und dann bitten sie um eine Präzisierung: «In den Medien ist immer die Rede vom Ukraine-Konflikt. Das ist nicht korrekt. Im Osten der Ukraine, in der Region Donbas, herrscht seit sieben Jahren Krieg – mit allen damit verbundenen Grausamkeiten. Jeden Tag werden Menschen getötet, über 13 000 ukrainische Soldaten und Zivilisten wurden (Stand März 2021; d. Red.) schon umgebracht, unzählige werden verletzt. Soldaten werden gefangen genommen und nach Russland verschleppt, wo sie gefoltert werden. Das ist Krieg und darum soll man diese Situation auch Krieg nennen – anstatt seit sieben Jahren von einem Ukraine-Konflikt zu reden.»
Ein Spielball der Mächtigen
Wie wir es nennen würden, wenn italienische Truppen plötzlich im Tessin einmarschieren würden, nur weil im Tessin auch italienisch gesprochen werde, fragt Tanja Wilhelm und macht nicht das erste Mal in diesem Gespräch betroffen. «Viele hier in der Schweiz wissen nicht um die leidvolle Geschichte der Ukraine. Um das Schicksal dieses grossen Landes, das – wider Willen – immer wieder zum Spielball der Mächtigen wurde und es auch jetzt wieder ist. Eine Pufferzone zwischen den Fronten. Ein Land, über das andere bestimmen.» Einst zwischen Habsburg und dem russischen Zarenreich, heute zwischen den USA und Europa auf der einen und Russland auf der anderen Seite. Und wieder werde über die Ukraine geredet, anstatt mit der Ukraine zu reden. Erstaunlich finden beide Gesprächspartnerinnen, dass manche Leute hier die Eigenständigkeit der Ukraine – ermöglicht erst durch den Zerfall der Sowjetunion zu Beginn der 1990er-Jahre – auch nach 30 Jahren noch nicht wahrgenommen hätten.
Immer häufiger Streit
Über die Ukraine reden, diskutieren, sich erklären – für die beiden Frauen ist das auch an diesem Morgen mit starken Emotionen verbunden. Heftig gehe es inzwischen auch bei den Diskussionen unter den aus dem Osten Weggezogenen zu und her. Ja, es gebe einige Ukrainerinnen in der Region, die einen mit russischer Muttersprache, andere mit ukrainischer. Auch viele andere Nationalitäten aus der Ex-Sowjetunion, wie Weissrussen, Kasachen, Armenier usw. sowie Russen lebten hier. Wo über den Krieg diskutiert werde, komme es schnell zu Streit. Eine Erfahrung, die beide Frauen machen.
Streit gebe es zum Beispiel, wenn Eltern ihre Kinder samstags vom Russisch-Unterricht in den Sprachschulen abholen würden. «Die Sprachschulen halten sich zwar explizit aus der politischen Diskussion heraus. Sie lehren unsere Kinder die russische Sprache, mehr nicht. Es sind die Eltern, die sich vor der Schule streiten.» Spring erzählt von einer Russisch-Sprachschule in der Region Basel, der das russische Konsulat die finanzielle Unterstützung entzogen hat, weil die Schulleiterin nicht bereit war, die Kinder im Sinne Russlands über den «Ukraine-Konflikt» zu informieren.
Die Bedeutung der Sprachen
Die Sprache – sie ist heute ein zentraler Streitpunkt zwischen Russland und der Ukraine. «Russland bezeichnet alle, die Ukrainisch sprechen, als Nationalisten», sagt Spring und schüttelt den Kopf. «In der Sowjetunion waren alle einfach nur Sowjetmenschen, ganz gleich ob Ukrainer, Georgier, Weissrussen, Kasachen.» Selbstverständlich hätten auch heute, 30 Jahre nachdem die Ukraine ihre Unabhängigkeit erlangt und die eigene Sprache wiedergefunden hat, noch immer viele Ukrainer Russisch als Muttersprache. «Die beiden Sprachen nebeneinander, das war bis zur Annexion der Krim im 2014 kein Problem.» Heute sei das anders. Für viele in der Ukraine stehe Russisch mittlerweile nur noch für Leid und Unterdrückung, Ukrainisch dagegen für den Wunsch nach einem unabhängigen Land und Frieden.
Für Tanja Wilhelm ist die «Ukrainisierung», gerade was die Sprache betrifft, zu stark. «Ich finde, Russisch sollte neben Ukrainisch als zweite Amtssprache bleiben. Im Süden und Osten der Ukraine ist Russisch mehr verbreitet. Meine Kinder zum Beispiel wachsen mit Russisch und Schweizerdeutsch auf. Beim letzten Besuch in Kiew konnten sie vieles nicht verstehen, da zum Beispiel Ansagen in der U-Bahn und Beschriftungen in Museen auf Ukrainisch und Englisch sind und Russisch aus dem Alltag verbannt ist.» Russisch sei aber nicht das Problem, daher sei es weder richtig noch hilfreich, die russische Sprache mit der russischen Politik gleichzusetzen.
Es bleibt nur die Neutralität
«Die Ukraine als Pufferland hat keine andere Wahl als neutral zu bleiben», sind sich die beiden Frauen einig. «Sie möchte nicht mehr in die russische Diktatur zurück, wird vom Westen, beziehungsweise der Nato und der EU, aber auch nie aufgenommen.» Vor allem, meint Tanja Wilhelm, brauche das Land Frieden und Zeit, um eine Mittelschicht wachsen zu lassen, «so wie hier in der Schweiz». Oksana Spring fügt hinzu: «Wir wollen Frieden und Freiheit und selber über unsere Zukunft entscheiden.» Schlimm sei die gezielte Desinformation, die von Russland aus betrieben werde. «Die Menschen an der Grenze zu Russland, in den umkämpften Gebieten Donezk und Luhansk mit den einst grossen Industrieanlagen, sie wissen gar nichts über den russischen Truppenaufmarsch. Umgekehrt tauchen in Kiew plötzlich Flugblätter auf, die vor einem baldigen Angriff warnen und Ängste auslösen.» In Russland wiederum würden gezielt Videos verbreitet, in denen Ukrainer sagen, sie werden zu den Waffen greifen, bereit, Russland anzugreifen. Oksana Spring: «Das Verrückte an der Sache ist: Das Video entspricht zur Hälfte der Wahrheit. Die Ukrainer sind tatsächlich bereit, zu den Waffen zu greifen. Aber nicht, wie das offizielle Russland im weiteren Verlauf des geschnittenen Videos behauptet, um Russland anzugreifen, sondern um die Souveränität der Ukraine zu verteidigen.»
Beide Frauen sagen: «Putin ist unberechenbar.» Beide verstehen nicht, warum viele Menschen – auch hier in der Region – russischsprachige und andere, dem russischen Präsidenten noch immer mit Wohlwollen und Vertrauen begegnen. Tanja Wilhelm: «2014 hat niemand damit gerechnet, dass Putin die Krim annektiert und doch hat er es getan.» Was das für die Zukunft der Ukraine bedeutet? Sie wisse es nicht, glaube trotz allem, es werde sich nicht wiederholen und hoffe das Beste.