Das lange Warten auf Hilfe
21.01.2022 PersönlichDie Corona-Pandemie ist nur eine von vielen Krisen, mit denen Kinder und Jugendliche konfrontiert sind. Die NFZ sprach mit Sara Michalik, Kinder- und Jugendpsychotherapeutin mit eigener Praxis in Aarau und im Nebenamt Fachrichterin am Familiengericht in Laufenburg.
Simone Rufli
NFZ: Frau Michalik, wie hat die Pandemie Ihren Arbeitsalltag verändert?
Sara Michalik: Es gab verschiedene Phasen, da ist eine einheitliche Beurteilung schwierig. Die Phase des Lockdowns war anders als jetzt, wo die Situation schon so lange andauert. Von Anfang an war für mich als Fachperson aber klar, diese Pandemie macht etwas mit unserer Psyche. Ich hatte früh das Gefühl, es wird zu einseitig auf die körperliche Gesundheit geachtet.
Was sich jetzt rächt?
Im Kinder- und Jugendtherapeutischen und -psychiatrischen Bereich haben wir im Aargau schon länger eine Unterversorgung. Unentgeltliche Beratungsangebote für Familien, Kinder und Jugendliche wurden abgebaut, weil Gemeinden nicht mehr bereit waren, Geld dafür auszugeben. Das wirkt sich nun ganz besonders dramatisch aus. Das Fricktal mit seinem Angebot steht im Vergleich gut da. Als Verbandspräsidentin habe ich zusammen mit weiteren Fachpersonen lange vor Corona immer wieder darauf hingewiesen, dass es mehr und vor allem mehr niederschwellige Angebote für Kinder und Jugendliche braucht. Es gab schon früher lange Wartefristen. Heute haben wir täglich Anfragen und müssen betroffene Familien leider oft abweisen. Dabei wissen wir aufgrund von ersten Studien und aus der Praxis, dass Jugendliche und junge Erwachsene am meisten unter der aktuellen Situation leiden.
Was im Ansatz nicht behandelt wird verschwindet nicht einfach, oder?
Nein. In der Versorgungspyramide zuoberst ist die stationäre Kinderund Jugendpsychiatrie mit medikamentöser Behandlung. Unten ist die niederschwellige, kostengünstige Beratungsstelle. Ist das Angebot unten zu knapp, steigen die Fälle weiter oben in der Pyramide zwangsläufig an. Diese Situation haben wir jetzt. Inzwischen sind auch die Angebote oben in der Pyramide vollkommen überlastet. Auch Jugendliche mit schweren Symptomen müssen Monate auf eine angemessene Hilfe warten.
Neue Angebote brauchen neben dem Willen, Geld und Zeit. Was lässt sich tun, um die Situation schnell zu verbessern?
Eine Möglichkeit wäre, in die Unterstützung und Beratung von Lehrpersonen zu investieren. Sie müssen zurzeit enorm viel mittragen. Sie sind aber nicht die einzigen. Alle sind mehr belastet, auch die Eltern. Zum Beispiel wegen Unsicherheiten bei der Arbeit oder finanziellen Sorgen.
Wie wirkt sich das auf die Jungen aus?
Aktuelle Befragungen zeigen, dass ein Drittel der 14- bis 19-Jährigen von psychischen Problemen betroffen ist. Unter Jugendlichen kommt es zu deutlich mehr Suizidalität, zu mehr depressiven Verstimmungen und zu mehr Ängsten. Viele fühlen sich gestresst. Das Schul- und Familiensystem ist mit diesen schweren Fällen konfrontiert und oft überfordert, weil auch viele Eltern und Lehrpersonen selber mehr belastet sind. In dieser herausfordernden Situation fehlt leicht die Sensibilität, um den Druck, der auf den Jungen lastet, im vollen Umfang wahrzunehmen.
«Wir sollten Druck von den Kindern und Jugendlichen wegnehmen»
Interview mit Psychotherapeutin Sara Michalik
Damit wir alle gut zueinander und zu unserer psychischen Gesundheit schauen können, brauchen wir die Erlaubnis, uns Sorge zu tragen, sagt Kinder- und Jugendpsychologin Sara Michalik im Gespräch mit der NFZ und tritt dafür ein, dass unsere Gesellschaft etwas weg kommt vom Leistungsdruck, den wir uns gegenseitig machen.
Simone Rufli
NFZ: Frau Michalik, von welchem Druck sprechen Sie konkret?
Sara Michalik: Bei meiner Arbeit erlebe ich zum Beispiel, dass Lehrpersonen den Druck, der auf ihnen lastet, weil sie trotz weniger Schulwochen und vielen Ausfällen den Lehrplan einhalten müssen, an die Schülerinnen und Schüler weitergeben. Anstatt etwas Druck wegzunehmen, wird der gleiche Stoff jetzt einfach in kürzerer Zeit durchgedrückt. Damit stehen alle unter Druck: Lehrpersonen, Jugendliche und Eltern. Man müsste sagen können, okay, jetzt haben wir halt weniger Stoff behandelt und weniger Noten geschrieben.
Da müssten aber alle mitmachen. Firmen, die Lehrstellen anbieten, weiterführende Schulen.
Absolut. Ich habe den Eindruck, dass wir das in der ersten Zeit der Pandemie auch viel besser gemacht haben. Wir waren solidarischer. Prüfungen haben nicht gleich gezählt, gewisse Prüfungen fielen ganz weg, man suchte Lösungen bei den Lehrabgängern. Der Druck wurde insgesamt weniger. Das ist jetzt nicht mehr der Fall. Die gesellschaftliche Solidarität insgesamt hat massiv abgenommen. Im Gegenteil befinden wir uns in einer konflikthaften Stimmung und das macht Jugendlichen und Kindern zu schaffen.
Es ist für mich nicht der Corona-Käfer, welcher der Psyche am meisten schadet.
Warum ist es denn gerade für die Jugendlichen so schwierig?
Bei den Jugendlichen kommen so viele Faktoren zusammen. Sie befinden sich in einem vulnerablen Alter. Sie haben viele Themen in einer kurzen Zeit zu bewältigen – schulisch, beruflich, körperlich, auf der Suche nach der Identität, Ablösung von den Eltern. Und jetzt zusätzlich Corona mit Einschränkungen bei persönlichen Kontakten und ständig ändernden Regeln.
Das Leben ist digital geworden.
Der Medienkonsum spielt sicher auch eine Rolle. Mir hat ein Jugendlicher gesagt: Ich habe 150 Freunde online, aber ich habe keinen Freund, den ich real spüre und weiss, er ist einfach für mich da. Das hat sich mit der behördlichen Weisung, sich möglichst nicht zu treffen, verschärft. Das gemeinsame Unternehmen und Erleben wurde stark eingeschränkt. Es geht zu lange schon nur noch um den Kopf und das Digitale, nicht mehr um das Spüren und Erleben.
Und etwas darf man nicht vergessen. Es ist nicht die Pandemie allein, die die Jugendlichen belastet. Ich erlebe viele Jugendliche, die sind hochsensibel, hochdifferenziert in ihrer Wahrnehmung. Die nehmen über die Medien so viel wahr und werden permanent beschallt mit schlechten Nachrichten. Wir haben ja auch noch eine Klimakrise, die die jungen Leute beschäftigt. Wir erleben eine Zeit, mit so vielen Menschen auf der Flucht, mit vielen kriegerischen und konflikthaften Auseinandersetzungen. Die Jungen wissen heute durch die Medien über alle Krisen weltweit Bescheid, etwas, das früheren Generationen zum Glück erspart blieb. Das viele negative Wissen wird leicht zur Überforderung. All das zusammen prägt die Zukunftsängste der Jungen. Und da fragen sich halt manche, was soll ich auf dieser Welt? Was passiert da mit uns?
Wird es wieder einmal besser?
Auch diese Fragen stellen sich viele. Was kommt als nächstes? Die jungen Menschen machen sich unglaublich viele Gedanken. Das führt dazu, dass sie oft ein sehr negatives Bild von sich, der Welt und der Zukunft haben.
Das andere grosse Problem in der medialen Welt ist die Oberflächlichkeit mit dem Optimierungswahn beim Aussehen und der Identitätsentwicklung. Es wird dir vorgemacht, dass du immer perfekt sein musst, um geliebt zu werden.
Erwachsene leben in der gleichen Welt. Warum setzt ihnen all das weniger zu?
Wenn man älter ist, hat man eher eine gefestigte Identität und man hat die Erfahrung gemacht, dass man Krisen überstehen kann. Man hat vielleicht schon einen Verlust erlebt, oder schwere Krankheiten überstanden. Das ist der grosse Unterschied zwischen den ganz jungen und den ganz alten Menschen. Dazu kommt, dass zwei Jahre im Jugendalter wegen der vielen Entwicklungsschritte viel länger sind, als wenn man 80 ist. Zwei Jahre sind für einen 16-Jährigen 12,5 Prozent seines Lebens, für einen 80-Jährigen 2,5 Prozent.
Was raten Sie den Jungen?
Denk an etwas Gutes, mach etwas Kreatives, schau etwas Lustiges anstatt negative Nachrichten. Tu dir Gutes, geht trotzdem raus, geht zusammen in den Wald, geht bräteln, bewegt euch! Es sind so banale Dinge, die wirklich helfen. Oft werden diese Dinge aber zu wenig ernst genommen, weil sie so banal und einfach sind. Viele wünschen sich jemanden, der ihnen zuhört und sie ernst nimmt. Gerade für solche Gespräche braucht es mehr Anlaufstellen ganz unten an der Pyramide. Dazu sind noch nicht einmal Psychotherapeuten oder Psychiater nötig.
Trotz all dem sind die meisten Kinder und Jugendlichen doch sehr kooperativ in dieser Pandemie.
Ich habe den Eindruck, die Jungen sind sehr solidarisch. Sie tragen Masken, lassen sich impfen, oft nicht in erster Linie, um sich selber zu schützen, sondern die Grosseltern.
Für Kinder schwieriger zu ertragen als die Massnahmen an sich, sind Spannungen. Kinder können unglaublich viel mittragen, aber wenn man innerhalb der Familie anfängt, um die Massnahmen zu streiten und in der Schule hört das Kind dann wieder etwas ganz anderes, dann ist das Kind zerrissen und mittendrin.
Wie kann man dem abhelfen?
Wir sollten darauf achten, Angst und Druck von den Kindern wegzunehmen. Ich habe den Eindruck, wir sind da nicht so gut unterwegs. In der Schweiz erleben wir derzeit viele Spannungen und Widersprüchlichkeiten und gerade das verunsichert die Kinder am meisten.
Also ist Halt durch klare Vorgaben wichtig?
Manchmal ist es besser, einheitlich aufzutreten und einfach zu sagen, so wird es gemacht. Jüngere Kinder brauchen klare Strukturen. Gerade die Schule ist eine ganz wichtige Struktur für das ganze Familiensystem, sie soll deshalb unbedingt offenbleiben. Insbesondere für belastete Familien ist die Schule enorm wichtig. Aber Sicherheit ist nicht alles. Ältere Kinder müssen etwas unternehmen können, sich spüren, erfahren, erleben, ausprobieren, Gleichaltrige treffen können. Es ist nicht gut, Jugendliche über längere Zeit in diesem Bestreben zurückzuhalten.
Werden wir aus der aktuellen Situation etwas Positives mitnehmen?
Ich wünsche uns, dass wir die aktuelle Situation als Chance zur Veränderung nutzen. Wie gesagt, belasten ja nicht nur Corona, sondern auch viele andere Themen die Jungen. Der Fokus auf das ständig Negative führt zu einer Überforderung, zu permanenten Sorgen. Das Gute hört man viel weniger.
Der Fokus liegt viel zu wenig auf dem Gesunden. Wir sollten mehr darüber lernen, was wir für unsere psychische Gesundheit und den Stressabbau tun können – bereits in der Schule. So können schon Kinder lernen: Ich kann etwas tun, auch in Krisenzeiten! Selbstwirksam sein, statt sich hilflos oder ausgeliefert zu fühlen.