Einer ist immer der Oberhirsch

  27.07.2019 Möhlin

An guten Tagen fressen sie ihren Betreuern aus der Hand. Manchmal aber auch nicht. Ein Besuch beim Hirschgehege in Möhlin.

Ronny Wittenwiler

Da trat er wieder einmal in Erscheinung. Der berühmt berüchtigte Vorführ-Effekt. Nein, weder die Männchen noch die Weibchen, an diesem Freitagmorgen hatten sie schlichtweg keinen Bock. Nicht ein einziges Exemplar liess sich fotografieren. Sepp Holenstein händigt einen USB-Stick aus: «Hier drauf sind tolle Bilder gespeichert.» Dann macht er sich bereit, zusammen mit Bruno Pozzi und Ernst Schürch, und es macht Klick – immerhin bekommt die NFZ die drei Betreuer vor die Linse.

Die drei Mannen sind vor knapp zwei Jahren auf den Hirsch gekommen. Frisch pensioniert und mit der Lust, den Unruhezustand mit einer tierischen Aufgabe zu bekleiden, übernahmen sie die Betreuung der Damhirsche. Derzeit besteht die Herde aus 59 Tieren, wovon achtzehn Junge, das ist eine stattliche Zahl und vielleicht Grund genug für die Annahme: nein, selbst in Möhlin dreht sich nicht alles nur um den Storch. Seit über vierzig Jahren weiden hier im Gebiet «Chilli» die Damhirsche, ursprünglich im Besitz von Charlie Waldmeier, vermachte er diese im Jahr 1998 der Gemeinde Möhlin. Mittlerweile sind sie im Besitz der Ortsbürger.

Der Menüplan
Die NFZ kommt an diesem Freitag zum bestens Zeitpunkt. Das Morgenessen wird gerade serviert. Parat stehen Kaffee und Gipfeli, ausnahmsweise, und für die Hirsche eine Karette voll mit gehäckseltem Trockenbrot, Maiskörnern, selenhaltigem Kraftfutter und Baumnüssen. Es ist der Moment, als Bruno Pozzi gerade von der Weide zurückkommt und vermeldet: keine Chance! Gerade erst haben die Tiere die Weide gewechselt, das dürfte mit ein Grund sein, weshalb sie heute etwas argwöhnischer sind und sich selbst für ein Foto in der Zeitung nicht aus der Reserve locken lassen. An anderen Tagen fressen die Tiere ihren Betreuern dann wieder aus der Hand. Allen voran das Leittier. Seit zwei Jahren ist dieser Bock hier zuhause, aus Häfelfingen gekommen, um zu bleiben. Für männliche Artgenossen an seiner Seite hat es jeweils Platz – bis sie die Geschlechtsreife erlangen. «Die Rivalität untereinander würde dann aber zu gross», sagt Ernst Schürch. «Sie würden einander kaputtmachen.» Mit anderen Worten: Einer ist hier immer der Oberhirsch, und ein zweiter wäre einer zu viel. Die erlegten Böcke werden in der Dorfmetzg entgegengenommen und verarbeitet.

«Viele wissen nicht, dass es hier Hirsche gibt»
Weidenwechsel, Fütterung, Wasserabgabe, Ausmisten, aber auch Reparaturen an Gehege sowie Weiden- und Gehölzpflege gehören zu den Aufgaben von Holenstein, Pozzi und Schürch. Die täglichen Einsätze teilen sie sich jeweils im Wochenturnus. «Im Normalfall dauert das ungefähr eine Stunde», sagt Sepp Holenstein. Ebenfalls zum Betreuungsteam gehört Roger Mahrer; als Gemeindeangestellter der Abteilung Wald und Landschaft ist er in beratender Funktion tätig. Finden die vier Männer immer wieder den Weg hinaus ins Gebiet «Chilli» zu ihrer Herde, so soll es dennoch hin und wieder vorkommen, dass der Ort für den einen oder anderen Dorfbewohner Neuland ist. «Erzähle ich von meiner Tätigkeit, höre ich immer wieder von Leuten, dass sie noch gar nie hier waren. Andere wissen nicht einmal, dass es in Möhlin Hirsche gibt», sagt Pozzi.

Wieder zurück auf der Redaktion, dockt der USB-Stick am Computer an, der Ordner mit den Bildern öffnet sich und dann erscheint er, der Beweis: doch, doch, es gibt sie – die Hirsche in Möhlin.

So geht es zum Hirschgehege: Auf der Landstrasse von Rheinfelden herkommend beim Kreisel geradeaus fahren, danach in die erste Strasse rechts abbiegen (auf gleicher Höhe linkerhand befindet sich der Abzweiger Haldenstrasse in Richtung Dorfzentrum). Nach rund zweihundert Metern befindet sich das Gehege auf der linken Seite.


Schwarze Schafe

Sorgen machen dem Betreuerteam und der Hirschenkommission gleichermassen, dass immer wieder verschimmeltes Brot abgegeben wird. «Das ist ein grosses Problem und völlig unbegreiflich», sagt Sepp Holenstein. Im «Brothüsli» entlang der Strasse, ausserhalb des Geheges, können Private jeweils getrocknetes Brot abgegeben. Zuletzt sind allerdings ganze Säcke mit stark verschimmeltem Brot aufgetaucht, woran die Tiere im schlechtesten Fall verenden könnten. «Nur schon der Gedanken daran, den Hirschen solches verfüttern zu wollen, ist reine Tierquälerei», sagt Ernst Schürch. (rw)


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