«Der Gang zum Sozialamt ist kein leichter»
24.01.2021 LaufenburgBeim Regionalen Sozialdienst in Laufenburg, dem fünf Gemeinden angeschlossen sind, spürt man die ersten Auswirkungen der Pandemie. Seit drei Monaten gibt es wöchentlich mehrere Anmeldungen.
Bernadette Zaniolo
NFZ: Herr Schwab, im letzten Frühling sagten Sie, dass sich die Auswirkungen der Pandemie erst später bei den Sozialdiensten bemerkbar machen würden. Was stellen Sie jetzt, rund neun Monate später, fest?
Marco Schwab: Das war tatsächlich so. Bis im Herbst haben wir kaum etwas von der Pandemie gespürt. Es war aussergewöhnlich ruhig. Seit rund drei Monaten erhalten wir nun wöchentlich mehrere Anmeldungen. Die meisten Personen, die sich aktuell anmelden, müssen zum ersten Mal zum Sozialamt. Viele von ihnen haben ihre Stelle verloren und deshalb Anspruch auf Arbeitslosentaggelder. So können wir in vielen Fällen bereits helfen, indem wir die mögliche überbrückende Unterstützung aufgleisen. Häufig wird die Sozialhilfe am Ende gar nicht oder nur subsidiär nötig, was die Betroffenen natürlich erleichtert.
Gab es spürbare Veränderungen durch das Corona-Virus?
Es kommen mehr Menschen zu uns, die zuvor in konstanten und stabilen Verhältnissen gelebt haben und somit das Sozialamt nicht kennen. Der Gang ist für Personen, die unmittelbar in so eine prekäre Situation geraten, kein leichter. Umso wichtiger ist es, dass wir ihnen unkompliziert die nötige Sicherheit bieten können, falls sich die Zahlungen der Arbeitslosenkasse verzögern sollten.
Sind das vor allem Personen, die ausgesteuert wurden, beziehungsweise bereits vor der Pandemie arbeitslos waren?
Hauptsächlich erhalten wir Anmeldungen von Personen, die zu Beginn der Pandemie noch gearbeitet haben. Natürlich haben wir auch in diesen Zeiten Neuanmeldungen von Personen, welche über die für uns gewohnten Wege in die Sozialhilfe gelangen.
Welche Altersgruppe ist besonders «armengenössig»?
Bezüglich Alter ist die Gruppe der unterstützenden Personen sehr divers. Familien mit Kindern, junge Erwachsene aber auch ältere Personen. Wir betreuen Menschen von 0 bis 100.
Sind es eher Männer, Frauen oder Familien?
Bei alleinstehenden Sozialhilfe-Beziehenden sind es etwas mehr Männer als Frauen. Ein Grund dafür ist, dass von den Menschen mit Fluchthintergrund eine Mehrheit junge Männer sind. Zählt man alleinerziehende Elternteile hinzu, gleicht sich dies aber wieder aus, da hier mehr Frauen betroffen sind.
«Wichtig ist, dass die Angebote bei den Menschen bekannt sind»
Dank tieferen Fallzahlen mehr Zeit für die Menschen
Marco Schwab, Leiter des Regionalen Sozialdienstes äussert sich im Interview mit der NFZ über Vorteile von tiefen Fallzahlen, Anonymität durch Zentralisierung und tief berührenden Momenten in seiner Arbeit mit Sozialhilfebezügern.
Bernadette Zaniolo
NFZ: Herr Schwab, Sie und Ihre Kolleginnen arbeiteten auch eine zeitlang im Homeoffice. Welche Auswirkungen hatte dies auf das Dienstleistungsangebot?
Marco Schwab: Es war uns ein grosses Anliegen, unsere Dienstleistungen durchgehend und zuverlässig anbieten zu können. Gerade in diesen, für uns alle mit grossen Unsicherheiten verbundenen Zeiten. Mindestens die Hälfte des Teams war immer vor Ort anwesend, während ein Teil zu Hause im Homeoffice arbeiten konnte. Dies ist auch heute wieder so. Einzig beim Lockdown im Frühling waren persönliche Beratungstermine vor Ort während einigen Wochen nicht möglich. Entsprechend haben wir die anderen Kommunikationswege wie Telefon, Mail und unseren Briefkasten inklusive Gegensprechanlage verwendet. Da es gerade während des ersten Lockdowns aussergewöhnlich ruhig war, war dies kein Problem.
Auch in der als reich geltenden Schweiz leben mindestens zehn Prozent der Bevölkerung unter der Armutsgrenze. Wie kann der Sozialdienst den Menschen am meisten helfen?
In einem ersten Moment geht es meist darum, den betroffenen Menschen in Not die nötige (finanzielle) Sicherheit und Unterstützung zu vermitteln. Das ist wichtig und beruhigt die instabile Situation bereits erheblich. Anschliessend ermitteln wir zusammen mit ihnen Chancen und Möglichkeiten und verfolgen diese. Unser Ziel ist es stets, eine grösstmögliche Eigenverantwortung und Selbstständigkeit zu fördern.
Wie gross ist die Chance für Betroffene, dass sie wieder von der Sozialhilfe wegkommen?
Nach meinen Erfahrungen, die ich an verschiedenen Arbeitsorten auch mit Hilfe von eigenen Statistiken gesammelt habe, können rund 40 Prozent der Sozialhilfedossiers mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht durch eigene wirtschaftliche Selbstständigkeit in Form von Erwerbstätigkeit abgeschlossen werden. Die Gründe hierfür sind vielfältig, aber klar begründbar. In diesen Fällen bringt in der Regel erst eine gesprochene IV-Rente oder das Erreichen des AHV-Alters eine Loslösung von der Sozialhilfe. Seit die IV ihre Rentenpolitik verschärft hat, wurden vermehrt Personen zu «Sozialhilfe-Rentner und -Rentnerinnen». Bei den übrigen 60 Prozent der Falldossiers besteht im Gegenzug eine reale Chance, dass die Personen wieder aus eigener Kraft wirtschaftlich selbstständig werden können.
Sie arbeiten in einem Bereich, in welchem Sie sehr viel mit Menschen zu tun haben, die tief «gefallen» sind, heisst von grossen Sorgen und Nöten gequält werden. Können Sie abends noch abschalten und ruhig schlafen?
In der Regel gelingt mir das sehr gut. Die Arbeit mit Menschen erlebe ich in den meisten Fällen als sehr befriedigend, manchmal natürlich auch aufreibend. Fachlichkeit, Interesse und Empathie sind die Grundpfeiler, um die Situation des Gegenübers korrekt zu erfassen und entsprechend zu handeln. Dazu gehört auch eine professionelle Distanz. Ohne diese würde meine Analyseund Leistungsfähigkeit stark eingeschränkt.
Was machen Sie, damit Sie abschalten können?
Bei der Arbeit ist es der Austausch und die Zusammenarbeit in einem engagierten und empathischen Team. So können heikle Momente und Entscheidungen gemeinsam reflektiert werden. Privat wohne ich direkt am Waldrand und liebe es, im Wald spazieren zu gehen. Gerade wenn wichtige Entscheidungen anstehen und ich beim Nachdenken zu keiner zufriedenstellenden Lösung gelange, kommt mit der Bewegung im Wald meistens von alleine die nötige Klarheit.
Es gibt wohl auch Momente, die Sie sehr berühren.
Natürlich!
Ein Beispiel.
Ich begleite seit längerem einen Mann, der mit starken Depressionen zu kämpfen hatte. Er verliess seine Wohnung kaum noch und reagierte auch nicht auf meine vielfältigen Kontaktversuche. Als er dann doch zu einem Termin bei mir erschien und ich das Ausmass spürte, schauten wir gemeinsam, dass er direkt von meinem Büro aus zum Hausarzt gehen und sich für einen stationären Aufenthalt überweisen lassen konnte. Ich glaube er trat noch am gleichen Tag in die Klinik ein. Während des Klinikaufenthalts entdeckte man zusätzlich erhebliche Herzprobleme und es folgten Eingriffe am Herzen. Nach den Operationen zurück in der Klinik erholte er sich wunderbar, fand wieder Arbeit und strahlte jeden Tag vor Glück. Mich haben seine Persönlichkeit und seine Kraft unglaublich inspiriert.
Umso aufwühlender war sein Anruf einige Monate später: Diagnose Krebs. Wie man sich vorstellen konnte, liess er sich auch davon nicht entmutigen. Seine Therapie verläuft bisher positiv.
Was löst es bei Ihnen aus, wenn Sie die Erfahrung machen dürfen, dass Sie einem Menschen aus der Krise helfen konnten und er oder sie von der Sozialhilfe wegkommt?
Am meisten freut es mich zu sehen, wie stolz die Menschen in diesem Moment den Sozialdienst verlassen. Stolz darauf, die Krise gemeistert zu haben und aus eigener Kraft einen Neustart anzugehen.
Wie kann man Menschen auffangen, bevor diese zum Sozialhilfebezüger werden?
Die Schweiz bietet glücklicherweise viele Anlaufstellen für Privatpersonen, die je nach Situation Unterstützung leisten können. Das Angebot umfasst Institutionen wie die Pro Senectute, die Schuldenberatung, Sozialversicherungen, die Pro Infirmis bis hin zu Angeboten im Bereich Asyl und Migration, dies um nur ganz wenige zu nennen. Diese Vielfalt und Spezifität sind aus meiner Sicht einzigartig. Wichtig ist, dass die Angebote bei den Menschen bekannt sind. Manchmal führen Besuche bei solchen Institutionen aber gerade auch dazu, dass Menschen den Schritt auf das Sozialamt wagen, da ihnen dort Mut gemacht wird, diese Hilfe anzunehmen.
Der Regionale Sozialdienst Laufenburg erbringt Dienstleistungen für insgesamt fünf Gemeinden. Wie kam es dazu?
Als ich Ende 2018 in den Regionalen Sozialdienst eintrat, gehörten ihm die Stadt Laufenburg und die Gemeinde Stein an. Nach meinen Kenntnissen entstand der gemeinsame Sozialdienst, da die Fallbelastung und Fallkomplexität in den letzten Jahren stetig zugenommen hatten. Personalabgänge im zweiköpfigen Team in Laufenburg sorgten jeweils für einen grossen Verlust an Wissen. Um die neuen Herausforderungen gestärkt anzugehen, entschied sich die Stadt damals auf Partnersuche zu gehen, um gemeinsam eine konstante und professionalisierte Dienstleistung anbieten zu können.
Eine Professionalisierung ist sicher gut. Aber wird durch die Zentralisierung nicht noch mehr Anonymität geschaffen, sprich man ist nicht mehr direkt am Puls der Bewohner der inzelnen Gemeinden?
Es wäre falsch, hier pauschal zu widersprechen. Distanz und Grösse führen in der Regel tatsächlich zu mehr Anonymität. Umso wichtiger ist es für uns, uns dessen bewusst zu sein und dieses Wissen in unsere Arbeit einfliessen zu lassen. Aus verschiedenen Gründen haben wir uns beispielsweise dazu entschieden, mit im Vergleich tiefen Fallzahlen zu arbeiten. In mittleren und grossen Sozialdiensten betreuen die Sozialarbeitenden pro 100 Stellenprozent in der Regel zwischen 80 und 100 Sozialhilfe-Dossiers. In Laufenburg haben wir uns das Ziel gesetzt, dass diese Zahl nicht über 70 steigt. Diese zusätzlichen Zeitressourcen bieten den Sozialarbeitenden in der direkten Arbeit mit ihren Klientinnen und Klienten bedeutend mehr Möglichkeiten. Wir minimieren so das Risiko, dass Sozialhilfefälle einfach nur verwaltet werden. Diese Veränderung zahlt sich im Übrigen nicht nur für die betroffenen Menschen aus, die von einer engeren Begleitung profitieren, sondern führen auch zu einem Rückgang der Sozialhilfekosten insgesamt.
Macht Ihnen der Job immer noch Freude?
Nach Abschluss der Wirtschaftsmittelschule habe ich vor rund zwölf Jahren in die Soziale Arbeit gewechselt. In der Sozialhilfe selbst arbeite ich nun etwas mehr als fünf Jahre. Und ich spüre auch heute noch eine grosse Begeisterung dafür, mit Menschen zu arbeiten und gemeinsam Ziele zu erreichen. Hinzu kommt meine Leidenschaft, diesen häufig etwas verstaubten Verwaltungszweig weiterzuentwickeln. Effizienter und besser zu werden, für die Menschen und so am Ende auch für die Gemeinden.
Haben Sie Familie?
Ich habe wunderbare Eltern und eine tolle Schwester. Eine eigene Familie habe ich bisher noch nicht.
Sind Sie dadurch vielleicht «einfühlsamer» als eventuell ihre Kolleginnen oder Kollegen?
Zum Glück bringt das ganze Team eine hohe Sozialkompetenz mit. Dazu brauchen Sie mich nicht.
Wieviel Nähe darf es sein und wieviel Distanz muss es sein?
Empathie und ein gutes Gefühl für Menschen sind wichtige Eigenschaften in dieser Arbeit. Mindestens so wichtig ist es aber, sich abgrenzen zu können. Ich vergleiche es gerne mit einem Rettungssanitäter. Da ist es mir als Patient durchaus wichtig, dass er mich als Menschen sieht, ich bin aber genauso froh, dass er mich professionell verarztet. So eine professionelle Dienstleistung dürfen die Menschen auch von uns erwarten.
Das Jahr 2021 ist noch jung. Rechnen Sie mit einem weiteren, grossen Anstieg der Sozialfälle?
In der Tendenz und gemäss den Arbeitslosenzahlen muss man dies tatsächlich. Viel wird aber davon abhängen, wie sich die Wirtschaft entwickelt. Bisher griffen die Massnahmen zur Sicherung der Arbeitsplätze vielerorts und diejenigen, die ihre Arbeit trotzdem verloren haben, können auf die RAVs und die Arbeitslosenkasse zählen, die aktuell einen riesigen Effort leisten. Schafft die Wirtschaft bereits 2021 genügend neue Arbeitsplätze für die Stellensuchenden und sind diese gleichzeitig bereit in anderen Branchen zu arbeiten, könnte dies viele Sozialfälle verhindern. Generell bin ich verhalten optimistisch, dass das Fricktal weniger unter den Auswirkungen leiden wird, als urbane Zentren.
Was wünschen Sie sich und der Gesellschaft für das Jahr 2021?
Gute Gesundheit! Daneben wünsche ich mir, dass wir trotz Masken und Abstand auch in Zukunft offen aufeinander zugehen und die vielen Fragen unserer Zeit gemeinsam lösen.
Der Regionale Sozialdienst Laufenburg
Der Regionale Sozialdienst Laufenburg erbringt Dienstleistungen für die Stadt Laufenburg sowie die Gemeinden Gansingen, Oeschgen, Sisseln und Stein. Zu den Leistungen gehören freiwillige Beratungen von Jugendlichen, Erwachsenen, Familien und Kindern in schwierigen finanziellen und persönlichen Verhältnissen, Prüfung und Ausrichtung von materieller Hilfe (wirtschaftliche Sozialhilfe), Alimentenbevorschussung und Alimenteninkasso, Elternschaftsbeihilfe sowie Vermittlung an soziale Institutionen (Triage). Im Jahr 2020 betreute der Sozialdienst 230 Dossiers; 2019 waren es 221 (noch ohne Oeschgen und ohne Sisseln).
Für die Aufgabenbewältigung stehen dem regionalen Sozialdienst Laufenburg total 410 Stellenprozente, auf sechs Mitarbeiter verteilt, zur Verfügung. (bz)