Eine Weihnachtsgeschichte von Ronny Wittenwiler

Fortsetzung vom Freitag, 20. Dezember

Bauern, Könige, Springer und Damen, Läufer. Alle standen sie nun nebeneinander aufgereiht, Schwarze und Weisse. Angeordnet zu einem einzig grossen Kreis.

«So sieht er die Welt», sagte der Alte und deutete auf seinen Hund. «Für Artus sind wir alle einander gleichgestellt. Wie die edlen Ritter der Tafelrunde. Das ist wahre königliche Haltung.»

«Gibt es denn einen solchen Ort?», fragte Lukas.

Es war der Tag vor Heiligabend.

Morgen schon würde im Park wieder eine Bühne stehen und ein Chor die schönen Lieder singen. Für nichts weniger als die Fröhlichkeit war der Tag reserviert. Traurige Gestalten und gescheiterte Existenzen, deren Namen niemand kannte, hatten da nun mal keinen Platz. Dafür würde die Stadt schon sorgen. Bauernopfer im Spiel des Lebens, einmal mehr.

Der Alte brachte die Wahrheit über sein Fortgehen nicht übers Herz. «Endlich ein Wiedersehen.» Schon so lange würde er darauf warten, sagte er stattdessen und als die Eltern am Abend ein letztes Mal vorsichtig die Tür zum Kinderzimmer einen kleinen Spalt weit öffneten, erspähten sie im Halbdunkel ein leeres Bett.

Ihr kleiner Junge war verschwunden.

Es war bitterkalt. Der verbotene Park schien verlassen. Doch plötzlich: «Ich war da, als der liebe Gott das gute Benehmen verteilte.» Seine kleinen Füsse steckten in gelben Gummistiefeln, über dem Pyjama trug er eine Regenjacke. Er zitterte am ganzen Körper.

«Was tust du hier?» Der Alte konnte sein Entsetzen nur schwer verbergen. Der Kleine aber war zu aufgeregt, um es zu bemerken. Seine kurzen Arme hinter dem Rücken versteckt, nahm er sie jetzt hervor. So fest er nur konnte, streckte er sie ihm entgegen. «Du solltest ihm ein Weihnachtsgeschenk mitbringen.»

Als stünde die Zeit für einen Augenblick still. Der Alte brachte kein Wort über die Lippen.

Abschied.

«Lukas.»

Der Kleine drehte sich noch einmal um.

«Du wolltest wissen, ob es sowas gibt. Einen Ort, wo alle einander gleich sind.»

«Ja?»

«Für mich hast du diesen Ort hier zu einem solchen gemacht.»

Der Kleine lächelte. «Frohe Weihnachten, Alfred.»

Dann lief er nach Hause.

Mehr noch als die dunkelste Nacht fürchten wir jene, über die sie hereinbricht. Doch, was wissen wir schon über all die Menschen, vergessen vom Glück, verlassen vom Mut. Starren gerade noch auf all ihre Narben und wagen ein Urteil.

Der Alte trug seine Narbe im Herzen. In dieser Nacht legte er seine Decke über den Hund. Mit klammen Fingern beschrieb er ein Stück Papier und liess es in der Tasche seines schäbigen Mantels verschwinden. Dann legte er sich auf die Bank vor dem Pavillon und blickte in den Himmel.

Wie Kronleuchter hingen die Lichter längst vergangener Zeit am Firmament. Als öffnete König Artus das Tor zum ewigen Saal der Tafelrunde. Dort, wo alle am Ende wieder zueinander finden und einander gleich sind. Den kleinen Stoffbären hielt der Alte fest in seinen Armen. Er schloss die Augen. Alles war gut.

Dann begab er sich auf die Reise zu den Sternen, wo sein Sohn auf ihn wartete.

Alle bekamen sie etwas ab vom zarten Licht, das von der Kerze aus ihrer Mitte ausging: Bauern, Könige, Springer und Damen, Läufer. Auf einer Bühne sang ein Chor Weihnachtslieder. «Es wird Zeit», sagten seine Eltern.

Als sie an Heiligabend ein letztes Mal leise die Tür einen Spalt weit öffneten, erspähten sie im Dämmerlicht ihren edlen Ritter, wie er friedlich schlief. Artus wich nicht von seiner Seite.

Und ich nenne dich beim Namen

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