"Wir haben ein massives Problem"

  27.01.2023 Frick

Die Ausführungen von Landammann Jean-Pierre Gallati zur Situation im Sozial- und Asylbereich wurden von vielen Teilnehmenden am zweiten Tag des vom Planungsverband Fricktal Regio organisierten Gemeindeseminars in Frick zum Anlass genommen, dem Regierungsvertreter Fragen zu stellen.

Simone Rufli

Alterspolitik, Asylwesen, Integration. «Alle diese Themen betreffen Sie als Gemeinde und überall spielen Sie eine wichtige Rolle», begrüsste Landammann Jean-Pierre Gallati die Teilnehmenden am zweiten Tag des Gemeindeseminars. Im Jahr 2020 hätten die Aargauer Gemeinden fast 100 Millionen Franken an Sozialhilfe ausgerichtet. Materielle Hilfe inklusive Prämienverbilligung seien es sogar 380 Mio. Franken.

Zum Thema Alterspolitik meinte er: «Wir sind in der Schweiz jetzt so weit, dass ein Jahrgang derjenigen, die aus dem Arbeitsmarkt ausscheiden, die Grenze von 100 000 Personen überschreitet.» Die Situation beim Fachkräftemangel werde sich weiter verschärfen. Ziel des Kantons im Bereich der Langzeitpflege sei, dass nicht mehr als 18,5 Prozent aller über 80-Jährigen in den Altersheimen leben sollten. «Im Fricktal wird diese Vorgabe vorbildlich erfüllt. Obwohl ich mir bewusst bin, dass es für Sie als Gemeinden zwiespältig ist. Als Miteigentümer eines Altersheims will man Auslastung.» Umgekehrt trage jeder, der nicht ins Altersheim müsse, zur Entschärfung der Situation an der Pflegefront bei.

Die Kinderbetreuung sei ebenfalls ein Dauerbrenner, seit der Gesetzgeber entschieden hat, dass die Finanzierung keine Kantonsaufgabe ist. Die Gemeinden sind aber verpflichtet, ein angemessenes Angebot bereitzustellen. Aktuell gebe es mehrere Vorstösse im Grossen Rat, darunter einer, der fordere, dass die Finanzierung dreigeteilt wird zwischen Gemeinden, Kanton und den Betroffenen und der als Postulat überwiesen wurde. «Das wird eine finanzpolitische Knacknuss, wir reden von Kosten für den Kanton von weit über 200 Mio. pro Jahr.»

Seit Februar 2022 leben 75 000 Geflüchtete allein mit Status S in der Schweiz. 8 Prozent (8000 Personen) übernimmt der Aargau. 15 Prozent sind im Arbeitsmarkt integriert. Der Status S ist rückkehrorientiert, mit Anspruch auf eine B-Bewilligung nach fünf Jahren. 11 Prozent der Gef lüchteten werden vom Kanton beherbergt, 48 Prozent in Gemeindeunterkünften, 41 Prozent in Privathaushalten. «Ohne private Hilfe wäre es nicht möglich gewesen», so Gallati. Namens der Regierung bedanke er sich bei den Gastfamilien und den Gemeinden für die Unterstützung.

Die Situation um die Geflüchteten dominierte auch die ans Referat anschliessende Fragerunde. Kann man wünschen, ob Frauen oder Männer zugewiesen werden, wenn bauliche Gegebenheiten dies erfordern? Was weiss der Kanton über das Wie-Weiter in dieser Krise? Jean-Pierre Gallati: «Das ist eine militärstrategische Frage, die ich nicht beantworten kann.» Sicher sei, dass früher oder später die Situation eintrete, dass alle verfügbaren Plätze besetzt seien. «Was dann passiert, weiss ich nicht.»

Es gab Fragen nach dem Mechanismus bei der Rückerstattung von Geldern, wenn Ukraine-Geflüchtete arbeiten. Ob Schulabgänger mit Status S im Sommer eine Lehre beginnen können. Es gab Fragen nach psychiatrischer Hilfe – auch für Syrier und Afghanen, die etwas in Vergessenheit geraten seien. Fragen nach der Anerkennung von Berufsausbildungen. Ist der Status S definitiv rückkehrorientiert? Gibt es am Ende doch eine Möglichkeit, zu bleiben? Sollen oder müssen die Integrationsbemühungen in den Gemeinden einfach verpuffen?

Gallati: «Das ist in der Tat eine widersprüchliche Situation. Alle Kantone wollen, dass der Status rückkehrorientiert ist, was er von Gesetzes wegen auch ist, und trotzdem haben auch wir beim Bundesrat den Antrag gestellt für eine Pauschale für die Integration.» Dauere der Krieg noch lange, werde am Ende die Realität ausschlaggebend sein. Was wollen die Ukrainer? Auch darüber gingen die Meinungen auseinander. Während der Landammann nur Kenntnis hat von Ukraine-Geflüchteten, die zurückkehren wollen, haben inzwischen viele Fricktaler Gemeinderäte Kenntnis von Geflüchteten, die bleiben wollen.

«Die Gemeinden, der Kanton, die Gesellschaft – wir haben aufgrund der aktuellen Kriegssituation ein massives Problem. Aber wir haben in den letzten zwei, drei Jahren auch eine gewisse Erfahrung und vielleicht auch Gelassenheit im Umgang mit Krisen erlangt.»


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