Brief aus der Zukunft
07.10.2022 LeserbriefeLiebe Mama, lieber Papa
Ich habe mich schon lang nicht mehr gemeldet, aber macht euch keine Sorgen, mir geht’s gut. Ich bin gerade auf einer Insel in Spitzbergen und es ist nicht so einfach, hier einen Briefkasten zu finden, um diese Postkarte einzuwerfen. Spitzbergen ist wunderschön, auf den Inseln ist es angenehm warm und die Wiesen sind malerisch grün. Ein laues Lüftchen weht hier und macht das Wandern wunderbar entspannend. Ich werde eine Woche hierbleiben, dann geht’s weiter nach Mitteleuropa. Bin schon gespannt, ob die Dünen der Wüste so gross sind, wie aus den Erzählungen eurer Freundin Laura. Den feinsten Sand soll es dort geben, noch feiner als der der Saharawüste, obwohl die Wüste in Europa noch nicht so alt ist wie die in Afrika. Nun will ich aber noch gar nicht zu fest in die Zukunft blicken, je nach Wetterextremen muss ich vielleicht einen Zwischenstopp in den dänischen Extremwetterbunkern einlegen.
Lieber erzähle ich euch, wo ich vor einer Woche war. Queensland, Australien. Ihr wisst ja, wie sehr ich das Tauchen liebe, und eure Eltern haben uns doch immer von dem Great Barrier Reef erzählt. Die Bilder von den Korallen und Meeresschildkröten im Museum in Queensland waren wirklich wunderschön, eine Schande, dass sie ausgestorben sind. Im Great Barrier Reef durfte ich dann ganz kurz tauchen gehen. Die Rekonstruk- tion des Korallenriffs war nicht schlecht, die Plastikkorallen sahen wirklich naturgetreu aus! Nur an die künstlichen Roboterschildkröten musste ich mich noch etwas gewöhnen.
Ich muss aber sagen, dass mir das Tauchen in Nordamerika wesentlich besser gefallen hat. Mit einer Tauchgruppe habe ich die Unterwasserstadt New York erkundet. Kaum zu glauben, dass auf den mit Algen bewachsenen Strassen mal Autos gefahren sind. Die Freiheitsstatue habe ich auch gesehen. Unter Wasser sah sie fast schon gruselig aus, so still und mystisch. Wir sind auch am Central Park vorbeigeschwommen, dort wo ihr beide euch kennengelernt habt. Es war schwierig, sich vorzustellen, dass dort mal Gras gewachsen ist und sich Leute zum Picknick verabredet haben.
Jetzt ragen Seegräser aus dem Boden und Muscheln kleben auf den festbetonierten Bänken. Leider mussten wir die Tauchgänge auf mehrere Tage verteilen, da der Ozean so sauer war. Vor New York war ich für zwei Tage in Nigeria. Für zwei Tage fand ich es gerade recht, aber länger hätte ich es nicht ausgehalten. Das Essen war himmlisch, aber es war drückend heiss und die ganze Zeit musste ich einen Anzug aus Netzen anhaben, damit ich mich nicht mit Malaria anstecke. Ich habe gehört, dass wegen der steigenden Temperaturen auch Europa ein Risikogebiet geworden ist. Hoffentlich erwische ich eine gute Woche, wenn ich meine Europareise mache, wo die Massnahmen ein bisschen gelockert sind. Speziell freue ich mich auf das Schweizer Gletschermuseum, denn dort gibt es Bilder von Schnee. Stellt euch das mal vor! Sogar Skier haben sie dort ausgestellt. An- scheinend ist man mit den Plastikbrettern durch den Schnee gefahren. So ganz verstanden habe ich das nicht, denn Schnee besteht doch aus Wasser, oder?
Ach, ich habe so viele Fotos gemacht, ich würde sie euch so gern schicken. Mit dem Handy ist es vielleicht ein bisschen unzuverlässig, da ich mitbekommen habe, dass die Hurrikans in der Heimat die 5G Masten zerstört haben. Eines der Fotos ist ein Bild aus dem norwegischen Museum, wo sie die Kleidung der 2020er Jahre ausgestellt haben. Dort trugen die Menschen noch gepolsterte Jacken, namens Winterjacken. Damals gab es noch Temperaturen unter dem Nullpunkt!
Grüsst Oma und Opa und Laura von mir und gebt ihnen Bescheid, dass ich nun doch nicht nach Südamerika reisen werde. Die radioaktive Strahlung des an der Küste zerstörten Kernkraftwerks ist doch noch zu hoch und dort unten herrscht gerade ein Mangel an ABC-Schutzanzügen.
Aber macht euch keine Sorgen, die hat sich in den 20er Jahren auch keiner gemacht. Bis bald!
EURE MARIA
Textmanuskript von Sofia Chautems Tufilli (19) aus Möhlin, Finalistin Open Word Wettbewerb, orellfüssli Basel vom September 2022