«Man muss die Leute überzeugen, nicht zwingen»

  28.12.2021 Gesundheit, Rheinfelden

Die Corona-Pandemie ist eine Herausforderung für unsere Gesellschaft. Dies sagt der Rheinfelder Professor Albert Urwyler, der seit 2016 Mitglied des Verwaltungsrats des Universitätsspitals Basel ist.

Valentin Zumsteg

NFZ: Herr Urwyler, ein nicht kleiner Teil der Bevölkerung steht dem Impfen kritisch gegenüber. Was sagen Sie als Mediziner dazu?
Albert Urwyler:
Mir ist bewusst, dass es einen Teil der Bevölkerung gibt, der seit langem impfskeptisch ist. Das ist nichts Neues. Bei Covid-19 handelt es sich jetzt aber um ein Virus, das in einem Ausmass Probleme macht, dass man diese Haltung vielleicht neu überdenken sollte. Ich verstehe, dass es am Anfang Leute gab, die skeptisch gegenüber der neuen Impfung waren. Wenn man aber heute sieht, dass sich mittlerweile mehrere Milliarden Leute impfen liessen und die Nebenwirkungen im Vergleich zu einer Covid-Erkrankung ausserordentlich gering sind, dann ist es unvernünftig, weiterhin darauf zu verzichten. Es ist fast so, also würde man beim Autofahren auf einen Airbag und einen Sicherheitsgurt verzichten, nur weil man der Meinung ist, dass man ein guter Fahrer ist und einem nichts passieren wird.

Aber hätten Sie erwartet, dass die Schweiz eine der tiefsten Impfquoten in Europa haben wird?
Das überrascht mich nicht. Durch die föderalistische Kultur, die Freiheit und die hohe Eigenverantwortlichkeit sind wir uns gewohnt, selbst zu entscheiden. Ich glaube, dass einige Leute, die zu Beginn impfskeptisch waren, einen Gesichtsverlust fürchten, wenn sie jetzt ihre Meinung ändern würden. Durch die sozialen Medien wird das alles verstärkt. Da werden teilweise Behauptungen verbreitet, die einer wissenschaftlichen und faktischen Prüfung in keiner Weise standhalten. Es ist unglaublich! Wir sollten diesen Menschen eine Brücke bauen, damit sie ohne Gesichtsverlust ihre Meinung ändern können.

Versuchen Sie manchmal, Impfskeptiker zu überzeugen?
Ja, das ist mir teilweise auch gelungen. Es wird zum Beispiel immer wieder behauptet, dass die mNRA-Technik etwas völlig Neues sei. Das stimmt überhaupt nicht. Schon vor 20 Jahren hat man zu dieser Technik geforscht. Damals dachte man, dass man sie für Krebstherapien nutzen könnte. Deshalb konnte sie rasch zu Entwicklung eines neuen Impfstoffs eingesetzt werden. Wenn man dies den Leuten erklärt, dann kann man ihnen vielleicht die Angst nehmen.

Würden Sie eine Impfpflicht befürworten?
Ich bin skeptisch, dass eine solche Pflicht zielführend wäre. Ich glaube auch nicht, dass dies in der Schweiz so einfach möglich ist. Wahrscheinlich bräuchte es eine Gesetzesänderung, das würde wohl lange dauern. Wichtiger scheint mir, dass klar informiert wird, wie die Fakten sind: Die Impfung schützt vor schweren Verläufen.

In Italien und Frankreich ist die Impfpflicht für das Gesundheitspersonal eingeführt worden, auch in Österreich ist das ein Thema. Würden Sie das begrüssen?
Nein, das würde ich ganz schlecht finden. Das geht nicht. Man muss die Leute überzeugen, nicht zwingen. Ich bin überzeugt, dies kann mit sachlicher Information gelingen. Im Unispital in Basel hat die Leitung das Impfen stark empfohlen. Bei den Leuten mit direktem Kontakt zu Covid-Erkrankten liegt die Impfquote bei rund 95 Prozent. 100 Prozent wird man nie erreichen, das ist nicht möglich, da es auch Leute gibt, die sich aus gesundheitlichen Gründen nicht impfen lassen können. Ich persönlich verstehe es nicht, wenn Leute heute auf das Impfen verzichten, bei denen keine eindeutigen gesundheitlichen Gründe dagegensprechen.


«Am schwierigsten ist die Situation  für das Gesundheitspersonal»

Interview mit Professor Albert Urwyler

Die Corona-Pandemie verstärkt Schwachstellen und Probleme der Gesellschaft. Dies erklärt der Rheinfelder Medizin-Professor Albert Urwyler im Gespräch.

Valentin Zumsteg

NFZ: Herr Urwyler, wie geht aus Ihrer Sicht die Schweiz mit der Corona-Pandemie um?
Albert Urwyler:
Wenn wir die Schweiz mit den anderen Ländern in Europa vergleichen, dann ist es im Grossen und Ganzen nicht so schlecht gelaufen. Die gute Infrastruktur und der hohe Wohlstand haben uns sicher geholfen. Es stellt sich aber immer die Frage, wie schnell die Behörden auf aktuelle Situationen reagieren müssen und können. Ich verstehe zum Beispiel nicht, dass es fast eine Woche Zeit für die Vernehmlassung braucht, wenn der Bundesrat neue Massnahmen ergreifen will. Wenn man merkt, dass die Zahlen anziehen, dann sollten der Bund und die Kantone schneller reagieren. Häufig schieben die Kantone und der Bund den Schwarzen Peter hin und her. Das ist aus meiner Sicht eine Schwäche unseres föderalistischen Systems. Das trägt auch nicht dazu bei, dass sich die Leute an die Vorgaben halten.

Was könnten wir besser machen?
Manchmal wundere ich mich über die Unvernunft der Leute. Da wird ohne Masken gegen die Vorgaben der Regierung demonstriert. Das ist unnötig und gefährlich. Was ich auch immer schlecht finde, sind apodiktische Aussagen: Zu Beginn hiess es zum Beispiel, Masken helfen nichts. Das hat sich als nachweislich falsch erwiesen. Oder: Wenn 65 Prozent der Personen geimpft sind, dann haben wir Herdenimmunität. Auch das hat sich als falsch erwiesen. Die Politik liebt zwar klare Ansagen, doch sie sind in einer solchen Situation mit viel Unsicherheit nicht hilfreich. Es werden zu schnell Schlüsse gezogen, die nicht erhärtet sind. Für mich wäre es zum Beispiel überraschend, wenn nach der dritten Impfung schon Schluss wäre. Ich rechne eher damit, dass wir uns wieder impfen lassen müssen. Das spricht aber überhaupt nicht gegen das Impfen.

Es wird immer von einer Spaltung der Gesellschaft gesprochen. Wie hat die Pandemie aus Ihrer Sicht die Gesellschaft verändert?
Ich weiss nicht, ob wir diese Frage jetzt schon abschliessend beantworten können. Die Pandemie hinterlässt sicher Spuren. Es ist in diesem Zusammenhang viel von der Spaltung der Gesellschaft die Rede. Doch wenn Familienmitglieder bei Fragen der Impfung und der Corona-Massnahmen aneinandergeraten, dann war das Verhältnis wahrscheinlich vorher schon angespannt. Ich glaube, dass die Pandemie gewisse Schwachstellen und Probleme der Gesellschaft verstärkt. Ich sehe aber nicht, dass die Pandemie per se die Gesellschaft spaltet. Es gibt immer Konflikte zwischen Menschen und unterschiedliche Interessen.

Sie sind Mitglied des Verwaltungsrates des Universitätsspitals Basel. Wie hart trifft die Pandemie das Unispital?
Am schwierigsten ist die Situation für das Personal. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter an der Front mit direktem Kontakt zu Patientinnen und Patienten werden am härtesten getroffen. Sie sind in dieser Krise permanent gefordert, es hört nicht auf. Das primäre Problem sind nicht die Finanzen, sondern, dass die Angestellten in dieser Situation ausbrennen und krank werden. Wer nicht mehr mag und es sich leisten kann, läuft davon und sucht sich Alternativen. In dieser Situation genügend neue Leute nachzuziehen, ist schwierig und braucht seine Zeit. Das ist ein echtes Problem. Ich hoffe, dass die Covid-Situation nicht weiter eskaliert, denn irgendwann stossen wir an Grenzen.

Wie wird sich Corona im nächsten Jahr entwickeln, was erwarten Sie?
Ich bin vom Typ her eher Optimist. Ich sehe nicht einfach schwarz. Es gibt in dieser Krise verschiedene Szenarien. Aus früheren Pandemien weiss man, dass diese in der Regel ein paar Jahre dauern. Jetzt haben wir glücklicherweise die Impfung, die einen Unterschied macht. Ich hoffe, es gelingt, dass noch mehr Leute die Impfung in Anspruch nehmen. Das Virus wird aber weiter zirkulieren und in Ländern, wo die Impfquote sehr tief ist, wohl auch weiter mutieren. Die Hoffnung besteht, dass es sich so verändert, dass es vielleicht leichter von Mensch zu Mensch überspringt, aber harmloser wird. Dann hätten wir wohl bald eine Herdenimmunität, viele Leute hätten dann zumindest partiell Antikörper. Diese Hoffnung besteht ja bereits bei der aktuellen Omikron-Variante.

Vor einem Jahr dachten viele, dass jetzt der Höhepunkt langsam erreicht ist. Wird uns Corona in einem Jahr immer noch beschäftigen?
Ja, davon gehe ich aus. Weltweit wird die Pandemie noch nicht verschwunden sein.

Sie haben einen grossen Teil ihres Berufslebens im Unispital Basel verbracht. Wie beurteilen Sie die Arbeit und die Bedeutung der Regionalspitäler?
Die Regionalspitäler sind wichtig für die Grundversorgung. Darunter verstehe ich den Notfall, die allgemeine Innere Medizin, eine chirurgische Notfallversorgung, die Geburtshilfe und die Pädiatrie. Das ist nötig. Im Fricktal sieht man derzeit, dass es die beiden Spitäler in Laufenburg und Rheinfelden unter dem Dach des Gesundheitszentrums Fricktal (GZF) braucht. Die Frage stellt sich aber, ist alles, was heute im GZF gemacht wird, sinnvoll? Wie viele Spezialisten braucht es? Die Erfahrung zeigt, dass die Fallhäufigkeit bei gewissen Operationen und Behandlungen zu tief ist. Da fehlt dann die Routine, was zu Einbussen der Qualität der Gesundheitsversorgung führen kann. Kommt hinzu, dass die kleinen Spitäler in vielen Bereichen – zum Beispiel der Urologie – keinen 24-Stunden-Betrieb gewährleisten können. Dessen ist sich die Bevölkerung nicht immer bewusst. Da muss transparent kommuniziert werden.

Hat die Schweiz insgesamt zu viele Spitäler?
Ja, das denke ich. Rund ein Drittel sind zu viel. Aber bestehende Spitäler zu schliessen, ist sehr schwierig. Die Kantonsgrenzen machen das Ganze noch etwas komplizierter. Wir sollten mit den Spitälern nicht nur eine kantonale, sondern vielmehr eine regionale Gesundheitsversorgung anvisieren, damit zeigt sich auch, welches Spektrum an Behandlungen ein bestimmtes Spital anbieten sollte.

Die Schweiz verfügt über ein gutes Gesundheitssystem, eines der besten der Welt. Die Kosten und damit die Prämien steigen allerdings laufend. Wie geht das weiter?
Das ist eine politische Frage. Die Gesellschaft muss sich überlegen, welche Leistungen sie sich in welchen Situationen leisten will. Ich bin der Meinung, dass man dort die Grenze setzen soll, wo die Behandlung zwar das Leben verlängert, aber die Lebensqualität nicht mehr gegeben ist. In diesem Sinne habe ich meine Patientenverfügung formuliert: Ich persönlich finde eine Behandlung gut, wenn man mir mit einer hohen Wahrscheinlichkeit versprechen kann, dass ich danach noch autonom funktionieren kann und in der Lage sein werde, die Dinge zu tun, die mir Freude bereiten. Wenn das nicht gewährleistet ist, dann bin ich zufrieden mit dem Leben, das ich hatte. Ich muss dann nicht noch Jahre ansammeln, nur damit ein späteres Datum auf dem Grabstein steht. Solche Fragen sollte sich jeder stellen. Doch das verdrängt unsere Gesellschaft gerne.

Sie sind Mediziner, Leben erhalten ist Ihre Aufgabe. Wie stehen Sie einer Sterbehilfeorganisation wie Exit gegenüber?
Da habe ich gar keine Berührungsängste. Ich bin zwar nicht Mitglied, aber ich kann mir vorstellen, dass ich unter gewissen Bedingungen zu Exit gehen würde.

Sie gehören zur Sebastiani-Bruderschaft Rheinfelden, die in der Pestzeit gegründet wurde. Hat diese Mitgliedschaft in der aktuellen Pandemie-Situation eine andere Dimension erhalten?
Wir haben eine interessante Überschneidung der Geschichte erlebt. Die Bruderschaft ist 1541 während einer Pestepidemie gegründet worden. Im vergangenen Jahr konnten wir unser traditionelles Brunnensingen wegen der Corona-Pandemie nicht durchführen. Es herrschen jetzt fast wieder solche Probleme wie zur Gründungszeit.

Was bedeutet Ihnen die Bruderschaft?
Das hat zwei Aspekte: Auf der einen Seite sind mir Traditionen wichtig, ich trage gerne etwas zu deren Erhalt bei. Auf der anderen Seite besteht die Bruderschaft aus Leuten mit unterschiedlichen beruflichen und persönlichen Hintergründen. Das ist interessant und hat mir auch wieder mehr Bezug zu Rheinfelden gegeben. Ich bin zwar hier aufgewachsen, da ich aber sehr viel arbeitete, habe ich lange Jahre hier vor allem geschlafen und wenig am gesellschaftlichen Leben teilgenommen.

Welche Pläne haben Sie für 2022?
Bei meiner Arbeit in den Verwaltungsräten des Universitätsspitals Basel und des «Hôpital du Jura» ist es mir ein grosses Anliegen, mich im Sinne einer guten Gesundheitsversorgung für die Bevölkerung einzubringen. Damit ich stets auf dem Laufenden bin, lese ich sehr viele wissen schaftliche Publikationen. Das werde ich auch im neuen Jahr tun. In meiner Freizeit bin ich Hochsee-Segler. Wir haben unseren letzten Törn im Mai 2019 gemacht. Ich hoffe, dass wir im nächsten Jahr wieder in See stechen können. Geplant sind im Mai drei Wochen in Sardinien.

Zum Abschluss: Was wünschen Sie der Schweiz und dem Fricktal im nächsten Jahr?
Es ist mein Wunsch, dass wir weiterhin friedlich miteinander leben können. Es zeigt sich, dass in Krisensituationen schnell Konf likte ausbrechen. Ich wünsche mir, dass wir den Frieden erhalten. Jeder kann etwas dazu beitragen. Gerne zitiere ich dazu die letzte Strophe des Neujahrslieds der Sebastiani-Bruderschaft: «Wir wünschen Euch zum neuen Jahr, den heiligen Sebastian, dass er in Krieges-, Pest- und Todsgefahr, mit seiner Fürbitt uns wolle beistehn. Er wird uns beistehn und das ist wahr, wir wünschen Euch allen ein gutes neues Jahr. Gott schütze Euch in den Gefahren, er gebe Euch Frieden und Einigkeit, Gesundheit, Segen und Genügsamkeit, und wolle Euch vor Übel bewahren.»


Albert Urwyler

Professor Albert Urwyler, ehemaliger Chefarzt der Anästhesie am Universitätsspital Basel und Dekan der Medizinischen Fakultät der Universität Basel, ist seit 2016 Mitglied des Verwaltungsrats des Unispitals. Zudem gehört er dem Verwaltungsrat des «Hôpital du Jura» an. Der 69-jährige Vater von zwei erwachsenen Kindern ist in Rheinfelden aufgewachsen, wo er mit seiner Familie auch heute noch lebt. In seiner Freizeit ist er ein passionierter Hochsee-Segler. (vzu)


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