«Der Weg wird zu sehr von der sozialen Herkunft bestimmt»
10.10.2021 PorträtMargrit Stamm referiert am «Forum Botia»
Kantonsschule oder Berufslehre? Für Margrit Stamm eine Frage, die weit mehr von gesellschaftlichen Rollen abhängt als von den Fähigkeiten und Neigungen der Jugendlichen. Ist das im Fricktal auch so? Die NFZ unterhielt sich mit der Professorin für Erziehungswissenschaften.
Simone Rufli
NFZ: Frau Stamm, Sie treten dafür ein, dass mehr Kinder aus nichtakademischem Elternhaus die Chance erhalten, eine gymnasiale Ausbildung durchlaufen zu können. Sollen denn insgesamt mehr Jugendliche die Schule der Berufslehre vorziehen?
Margrit Stamm: Ganz und gar nicht. Ich trete nicht für eine höhere Gymnasial-Quote ein. Mit schweizweit rund 20 Prozent Jugendlichen, die ein Gymnasium besuchen und 80 Prozent in der Berufslehre ist die Aufteilung gut. Mir geht es darum, eine den Fähigkeiten und Interessen entsprechende Zuteilung der Jugendlichen zu erreichen. Heute wird der Weg zu sehr von der sozialen Herkunft der Eltern bestimmt.
Mit anderen Worten: Manche Jugendliche besuchen nur deshalb ein Gymnasium oder eine Kantonsschule, weil es die Eltern so wollen. Gibt es denn Belege für diese Aussage?
Meine Annahme beruht auf empirischen Hinweisen. Es gibt eine ETH-Studie aus dem Kanton Zürich, in der mehrere Tausend Gymnasialschüler auf ihre Intelligenz getestet wurden sowie eine Langzeitstudie der Zürcher Bildungsdirektion. Beide Studien belegen eindeutig, dass mindestens 30 Prozent der Kanti-Schülerinnen und -Schüler die Voraussetzungen nicht erfüllen, um dort zu bestehen. Ich bin nicht unbedingt der Meinung, dass nur die Intelligenz ausschlaggebend ist. Es gibt auch andere Faktoren, die wichtig sind. Aber ich bin der Ansicht, dass zu viele Kinder aus bildungsambitionierten Familien in den Gymnasien sind, obwohl sie in einem handwerklichen Beruf bessere Ergebnisse erzielen würden, und umgekehrt zu wenig Kinder aus Nicht-Akademiker-Familien die Matura machen. Und dies, obwohl sie über die nötigen Fähigkeiten und Neigungen verfügen würden.
Jetzt könnte man sagen: Unser Bildungssystem ist heute durchlässiger denn je. Da spielt es doch keine Rolle mehr, welchen der beiden Wege ein junger Mensch einschlägt.
Wir haben in der Tat eines der besten Bildungssysteme, was die Durchlässigkeit betrifft. Und die Erfolge unserer Lernenden an internationalen Wettbewerben sind der beste Beweis für die hohe Qualität der beruflichen Ausbildung. Trotzdem darf die Durchlässigkeit nicht zum Alibi für festgefahrene Zuweisungen werden. Es braucht mehr und vor allem frühere Informationen für die Eltern aus allen gesellschaftlichen Schichten. In der siebten Klasse ist es dazu bereits zu spät. Denn noch immer sind viele Eltern über die Möglichkeiten, die unser Bildungssystem bietet, zu wenig oder zu unvollständig informiert. Akademiker-Eltern sehen die gymnasiale Matura sehr oft als eine Selbstverständlichkeit für ihr Kind. Während in den Köpfen von Arbeiter-Eltern die Abneigung tief sitzt gegenüber einer vermeintlich elitären gymnasialen Ausbildung, in der die Kinder nicht arbeiten lernen und kein Geld verdienen.
Gerade im oberen Fricktal entscheiden sich aber viele Jugendliche aus Überzeugung für eine Berufslehre.
Das stimmt, aber auch im Fricktal ist ein Wandel spürbar. Zuzügerinnen und Zuzüger mit Arbeitsplatz in Basel oder Zürich sind weniger bereit, sich über die vielfältigen Möglichkeiten und Ausbildungsgänge zu informieren, die eine Berufslehre ihren Kindern eröffnen würde. Ein Gespräch mit Eltern von Gymnasiasten in Vaduz hat mir gerade erst wieder gezeigt, dass in Akademiker-Familien oft gar nicht darüber diskutiert wird, welchen Weg das Kind einschlagen soll. Und dabei spüren gerade diese Eltern oft, dass das Gym ihrem Kind nicht wirklich entspricht, dass es ihm an der nötigen Motivation fehlt. Für manche Eltern ist es auch der einfachere Weg. Mit dem Gym ersparen sie ihrem Kind die Bemühungen rund um eine Lehrstellensuche und Bewerbung.
Sollten denn die Lehrpersonen mehr Einfluss nehmen auf die Richtungswahl?
Das ist nicht einfach. Eltern mit akademischen Titeln treten sehr selbstbewusst auf. Wenn die Lehrpersonen dann Wolken aufziehen sehen in Form von möglichen Rekursen, kann es zu Gefälligkeiten kommen. Es müssen auch nicht unbedingt Lehrpersonen sein. Es können auch andere Erwachsene sein, die sich bei den Eltern für die Kinder einsetzen als Mentoren.
Das Fricktal bekommt schon bald eine eigene Mittelschule. Wird das die Lehrbetriebe weiter unter Druck setzen?
Es ist zu hoffen, dass die Fricktaler Kantonsschule dereinst nicht von Schülerinnen und Schülern überschwemmt wird, die es in Basel nicht mehr schaffen. Basel hat mit 37 Prozent schweizweit die höchste Gymnasial-Quote, was viel zu hoch ist.
Für die Zukunft wird es entscheidend sein, dass beide Seiten von ihren starren Positionen loskommen. Für bildungsambitionierte Eltern heisst das, sie haben nicht per se ein Anrecht auf einen Platz am Gymnasium, und Familien aus einfachen Verhältnissen müssen erkennen, dass eine intellektuelle Ausbildung weder elitär noch schlecht ist.
Prof. Dr. Margrit Stamm
Margrit Stamm ist emeritierte Professorin für Pädagogische Psychologie und Erziehungswissenschaften an der Universität Fribourg sowie Direktorin des Forschungsinstituts Swiss Education in Aarau. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Begabung, Qualität in der Berufsbildung und Förderung von Migrantenkindern. Am 14. Oktober geht sie als Referentin am «Forum Botia» im Restaurant Post in Bözen der Frage nach: «Gehen die richtigen Jugendlichen ins Gymnasium und in die Berufslehre?» (sir)