«Erst kommt das Fressen, dann die Moral»
12.09.2021 WissenschaftKriegsnachrichten.ch: 3. Quartal 1941 – Blick auf innenpolitische Themen
Thomas Bitterli
Die Haltung der Eidgenossen zum Krieg gegen Russland
Mit dem überraschenden Angriff der Nationalsozialisten auf das bolschewistische Russland am 22.6.41 setzt in den beiden Regionalblättern Neue Rheinfelder Zeitung (NRZ) und Frickthaler (FT) eine Diskussion ein um die Wertung dieses Ereignisses.
Der Bericht zum Aufruf Stalins zum Prinzip der verbrannten Erde (NRZ 77, 5.7.41) schliesst: Etwas sonderbar mutet einem der Schluss der Rede Stalins an, in der er von einem Kampf um Freiheit und Frieden redet. Die bisherige Politik der Bolschewisten liess ja gerade diese höchsten Güter des Menschen vergessen machen.
In einem Kommentar (NRZ 79, 10.7.41) wird daran erinnert, dass die Schweiz 1934 den Beitritt Russlands in den Völkerbund ablehnte. Begründet wurde dies von Bundesrat Motta damals damit, dass der russische Kommunismus zum Ziel habe, die Welt durch eine Revolution neu zu ordnen. Wenn er ihm treu bleibt, so wird er der Feind aller, denn er bedroht uns alle.
In Beitrag Schweiz und Russland (FT 81, 18.7.41) wird die strikte Neutralität der Eidgenossen erklärt aus der historischen Tradition, seit Marignano (1518) sich auch fremden Händeln herauszuhalten. Deshalb werden auch aktuell keine Gesuche von Freiwilligen zur militärischen Teilnahme am Kampf auf Seiten der Finnen oder Deutschen bewilligt, und wir sind gewiss, dass die nationale Disziplin der Schweiz, trotz unserem sprichwörtlichen Antibolschewismus, sich auch in diesem Falle durchsetzen wird.
Es ist verständlich, dass die ‹älteste Demokratie der Welt› und das Dritte Reich politisch in den Ansichten ihrer Bevölkerung sich nicht in allem decken (NRZ 88, 29.7.41). Trotzdem bringen die Eidgenossen Verständnis für den gigantischen Kampf im Osten auf. Aber auch wenn Russland geschlagen werde, sei der Kommunismus nicht überwunden. Eine spätere Geschichtsschreibung wird Hitler seinen Russenzug im Interesse Europas als grosse Tat anrechnen. Der Krieg im Osten wird hier also als Feldzug gegen eine Ideologie verstanden. Diese Einschätzung ist auch in einem Kommentar zur Besetzung Islands zu finden (NRZ 84, 22.7.41), im dem die Wilhelmsstrasse (rhetorische Stilfigur für Deutsche Reichsregierung) bemerkt, dass Deutschland keine Schritte gegen diesen Eintritt der USA in den Nordatlantik plane, da man sich gegenwärtig im Kreuzzug gegen den Bolschewismus befinde.
Die fast täglichen Berichte über das militärische Geschehen, vor allem im europäischen Osten, werden zur Gewohnheit und stumpfen die Emotionen der Eidgenossen ab (FT 93, 18.8.41). Es klingt so schneidig, wenn man von Vernichtungsschlachten, von vernichteten Divisionen, Armeekorps, Dörfern und Städten spricht. ... Vernichtungskrieg, das klingt so frischfröhlich vom Radio zwischen Walzern und Märschen, zweitausend Tote hier, dreitausend dort ... Dabei werde immer wieder vergessen, dass das auch Menschen sind, die umkommen. ... Die Gefahr ist gross, dass auch wir uns daran gewöhnen, diese Dinge hinzunehmen ... was wir mit dem Morgenkaffee oder der Mittagssuppe als «letzte Nachrichten» herunterschlürfen.
Auf ein Elend, dessen Ausmass wir erst viel später erkennen sollen, werden wir in der Rubrik Kurze Meldungen (FT 110, 26.9.41) aufmerksam. Um Pfarrer Niemöller. Der Schweizerische Evangelische Pressedienst meldet, dass Niemöller aus dem Konzentrationslager in Sachsenhausen in jenes von Dachau bei München überführt wurde. Dieser Wechsel bedeutet eine wesentliche Erleichterung, in dem er in Dachau in drei Zimmern zusammen mit zwei katholischen Geistlichen untergebracht ist. Damit ‹kann› er nach bald vier Jahren ... regelmässig mit Menschen verkehren. Martin Niemöller (1892–1984) war als evangelischer Theologe ein prominenter Widerstandskämpfer gegen den Nationalsozialismus und galt als ‹persönlicher Gefangener› Adolf Hitlers, weshalb er wohl eine gewisse Vorzugsbehandlung erfuhr.
Die wirtschaftliche Lage in der Schweiz
Das am 30.6.41 ausgelaufene Verrechnungs-Abkommen mit Deutschland wird bis Ende 1942 verlängert (FT 82, 21.7.41). Darin hat Deutschland es übernommen, die Schweiz während der Geltungsdauer ... mit Kohle und Eisen zu versorgen und hat zugesagt, dass auch nach diesem Zeitpunkt ‹E. 1942› weiter ... geliefert werde. Zudem wurde ein Versorgungsprogramm für f lüssige Brennstoffe aus dem Balkan aufgestellt. Bis Ende 1942 sollen monatlich 200 000 T Kohle und 13 500 T Eisen geliefert werden. Dazu kommen noch Sonderlieferungen für Erzeugnisse, die die Schweizer Industrie für Deutschland herstellt (NRZ 87, 29.7.41).
Die britische Regierung verschärft in der Folge die bisher gewährten Erleichterungen bei der Einfuhr von Rohstoffen für die Schweiz durch den Blockadering (FT 111, 29.9.41). Davon nicht betroffen ist die Einfuhr von Lebensmitteln und Futtermitteln. Begründet wird dies britischerseits mit dem Abschluss des deutsch-schweizerischen Handelsabkommen von Mitte Juli 41. Die Briten sind der Ansicht, dass die Exportindustrie der Schweiz den Handel mit Deutschland bevorzuge. So ist dem entgegen zu halten, dass Import und Export nach beiden kriegsführenden Mächtegruppen im ... gleichen Verhältnis stehen. Dies im Einzelnen den britischen Stellen auseinanderzusetzen, wird Aufgabe der massgebenden Instanzen sein.
Die Schweizer murren
Die kriegsbedingten Einschränkungen im Lebensmittel-Alltag nehmen die Eidgenossen zunehmend mit Murren zur Kenntnis. So sind denn in den beiden Regionalblättern diesem Verhalten mehrere Artikel gewidmet. Aus heutiger Sicht könnten wir diese Zeit charakterisieren mit dem Zitat aus der Dreigroschenoper von Berchtold Brecht: Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral.
An der katholischen Synode in Aarau hat Domherr G. Binder zur Lage der Schweiz gesprochen (NRZ 75, 1.7.41). Das europäische Staatensystem sei zusammengebrochen und mit nie dagewesener Gewalt gehen die Armeen aufeinander los. Alles soll Schutt und Asche werden ... Die Dämonen der Macht, des Geldes, des Genusses und des Todes feiern ihre Triumphe. Nur die Hölle lacht. Aber wie lange noch? Und was machen die Eidgenossen? Statt sich beim Herrgott und seinem treuen Diener Bruder Klaus zu bedanken, wird gemeckert. Ist es nicht ein Gebot der Stunde, statt die Massnahmen der Regierung und der Armeeleitung zu kritisieren, diesen Geist der alten Eidgenossen wieder lebendig werden zu lassen? Binder bezieht sich dabei auf den Widerstandswillen der Urschweizer gegen Habsburg.
Zur wirtschaftlichen Lage (FT 84, 25.7.41) wird kommentiert. Die Zahl der Verordnungen...die von den Organen der Kriegswirtschaft, mehr der Not gehorchend als dem eigenen Triebe, erlassen worden sind, ist beträchtlich.... Nur wer den schweizerischen Charakter nicht kennt, wird sich wundern, dass sie fast ausnahmslos zu vehementer Kritik Anlass geben ...Und der Vorwurf der Kompromisslust! .. unser ganzes Leben ist aus Kompromissen zusammengesetzt und ohne diese ... wäre überhaupt keine Gemeinschaft denkbar... Wer dies nicht begreifen oder übersehen will, gehört nochmals in den Unterricht der ersten drei Primarklassen.
Der Beitrag Kriegswirtschaft (FT 91, 11 8.41) gibt ein eindrückliches Bild der Stimmung der Eidgenossen. Zunächst wurden die wirtschaftlichen Einschränkungen teils mit Murren und Meckern angenommen. Aber nun regt sich überall Widerstand. Wir haben zwar vor der Öffentlichkeit der harten Notwendigkeit kapituliert und unsere allzeit so gut behütete Privatfrontlinie zurückgenommen. Aber hinter der neuen Front spielt sich ... eine Art Klein- oder Guerillakrieg: es ist die Rede vom Schwarz- und Schleichhandel. Dieser Kleinkrieg im Rücken unserer nationalen kriegswirtschaftlichen Front ist schlimmer als offene Kampfansagen. ... Denn je mehr auf Kosten unserer Kriegswirtschaft geräubert und gewildert wird, umso rascher werden die Mittel und die Vorräte erschöpft und neue noch einschränkendere und schärfere Massnahmen für alle notwendig sein. Man kann den Kuchen ... nur einmal verteilen und verzeh- ren. Und wo nichts ist, hat auch der Reichste sein Recht verloren.
Kurz und bündig: Die Zeitungen berichten, dass in der rumänischen Hauptstadt nur noch einmal im Monat Fleisch verteilt wird und zwar 250 Gramm. Und wir murren! (NRZ 96, 21.8.41).
Von einer Rationierung der Kartoffeln (FT 109, 24.9.41) könne keine Rede sein. Wer von solchen Absicht herumspreche, mache sich strafbarer Gerüchtemacherei schuldig.
Von Brot, Käse und anderem
In einem Beitrag Auf dem Weg zum Kartoffelbrot (NRZ 71, 21.7.41) berichtet die eidgenössische Kommission für Kriegsernährung über die Versuche mit der Beimischung von Kartoffeln zum Brotmehl. Danach soll im Kartoffelbrot 8 bis 10 % des Mehles durch Kartoffeln ersetzt werden: 30 bis 40 Kg Kartoffeln zu 60 bis 70 Kg Backmehl. Dabei müssen die Kartoffeln mit der Schale(!) zerkleinert werden, dann gedämpft, aufgekocht oder im Backofen erhitzt (gebraten) werden. Gegenwärtig sind die Grossversuche im Gange.
Das Eidgenössische Kriegsernährungsamt beschliesst per 2.9.41 die Abgabe von Käse aller Art zu rationieren (NRZ 101, 2.9.41). 100 Gramm Vollfettkäse oder 150 Gramm Halbfettkäse oder 200 Gramm Magerkäse oder 112 Gramm Schachtelkäse. Die gesamte Monatsration für einen Erwachsenen beträgt 400 Gramm.
Das Eidgenössische Kriegstransportamt weist die Exporteure an, für Sendungen nach Italien keine Zeitungen als Packmaterial zu verwenden, da dies von italienischer Seite als störend empfunden wurde (FT 106, 17.9.41).
Die Brauereien werden ermächtigt, den Zusatz von Extrakt oder Stammwürze um einige Prozente herabzusetzen. Dadurch können die Malzvorräte, deren Ergänzung durch Einfuhren auf Schwierigkeiten stösst, gestreckt werden (FT 10, 17.9.41). Das Bier wird dünner.
Das Denkmal in Rheinfelden
An der Strasse von Rheinfelden nach Magden steht kurz nach dem Parkplatz an der Autobahneinfahrt am Waldrand ein Denkmal. Eine Grenzkompanie hat die Idee angeregt, von Otto Frey (Füsilier aus Magden) ein Relief herstellen zu lassen, das nach dem Kriege an die jetzige (1941) Grenzbesetzung erinnern soll. Der junge Plastiker (Steinbildhauer) hat ein kraftvolles Werk geschaffen ohne in den kleinen Formen ins Aesthetische und Naturalistische zu verfallen (NRZ 89, 1.8.41).
Nachrichten aus einer kriegerischen Zeit
Das Fricktaler Projekt «Kriegsnachrichten» macht die Originalausgaben der «Volksstimme aus dem Frickthal», der «Neuen Rheinfelder Zeitung» und des «Frickthalers» aus den Jahren 1939 bis 1945 im Internet für jedermann zugänglich. Zudem erscheint viermal jährlich ein Essay, basierend auf der Berichterstattung des jeweiligen Quartals, in welchem der Autor das Kriegsgeschehen thematisiert und unter verschiedenen Gesichtspunkten beleuchtet.
Thomas Bitterli, Autor des hier publizierten Beitrages, ist Historiker und Archäologe, sowie Fachberater armasuisse Immobilien Kompetenzzentrum Denkmalschutz, Basel. (nfz)