«Wir nehmen es bis zur letzten Schraube auseinander»

  16.12.2020 Laufenburg

Erstmals wird das 100 Jahre alte Stauwehr Laufenburg generalsaniert

Das zum Kraftwerk Laufenburg gehörende Stauwehr wird über mehrere Jahre erstmals seit der Erbauung 1914 saniert. Die Dimensionen sind riesig: Das grösste Zahnrad der Getriebe wiegt 18 Tonnen, eine Spundwand 220 Tonnen.

Boris Burkhardt

Nach 100 Jahren sei mal eine Generalsanierung notwendig gewesen, findet Roland Kistner. Die halb scherzhafte Bemerkung des Projektleiters der Sanierung des Laufenburger Stauwehrs lässt einem die zeitlichen Dimensionen des Kraftwerks bewusstwerden: Als das Kraftwerk und das dazugehörige Stauwehr im Juli 1914, zwei Wochen vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs, in Betrieb ging, war es erst das dritte nach den Stau- und Kraftwerken in Rheinfelden (1898) und Augst–Wyhlen (1912). «Es ist das erste Mal, dass das Stauwehr komplett saniert wird», betont Kistner: «Wir nehmen es bis zur allerletzten Schraube auseinander.»

Durchfluss aktuell 620 Tonnen Wasser pro Sekunde
Kistner steht auf dem Windwerk (benannt nach der Winde, nicht nach dem Wind), dem gemeinsamen «Dach» der vier Wehrfelder, 15 Meter über dem sprudelnden Rheinwasser, das hier zehn Meter tief ist. Das Stauwehr befindet sich auf der rechten Hälfte des Rheins: Es dient der Regulierung des Durchflusses durch das eigentliche Kraftwerk, das die linke Flusshälfte einnimmt. Derzeit stürzen etwa 620 Tonnen Wasser pro Sekunde durch die zehn Turbinen des Kraftwerks, die auf einen Maximaldurchfluss von 1400 Tonnen oder 1,4 Millionen Liter ausgelegt sind. Kistner hat für die Wucht und Masse dieses Wassers einen besonders bildhaften Vergleich parat: «Das ist, als ob jede Sekunde 280 Elefanten zehn Meter hinunterspringen.» Betrieben wird das Kraftwerk seit der Fusion der eigenständigen Unternehmen Kraftwerke Laufenburg und Kraftwerke Rheinfelden von Kistners Arbeitgeberin Energiedienst AG.

Die vier Wehrfelder sind durch Steinmauern voneinander getrennt. Jedes hat zwei eigene Spundwände, sogenannte «Schützentafeln»: Eine liegt auf dem Rheinboden auf und kann bei Bedarf nach oben gefahren werden; die andere beginnt knapp oberhalb des Wasserpegels und kann zur Regulierung nach unten gelassen werden. Das Heben und Senken der je 220 Tonnen schweren Tafeln erfolgt über zwei mächtige Zahnradgetriebe, die beide getrennt in der Windwerkbrücke aufliegen. Die Getriebe werden nun eins nach dem anderen auseinandergebaut, deren Teile überprüft, gereinigt und erneuert. Für die Getriebe der ersten beiden Wehrfelder 4 und 3 brauchten die Mitarbeiter von Energiedienst und externen Spezialfirmen je anderthalb Jahre: Allein die gigantische Kette wiegt sechs Tonnen pro Stück, das grösste der Zahnräder im Getriebe 18 Tonnen. «Die Dimensionen sind einfach riesig», bestätigt Kistner. Die Sanierung von Wehrfeld 2 soll dieses Jahr abgeschlossen werden.

Überdurchschnittlicher Planungsaufwand
Gemäss Staatsvertrag liegen die Wehrfelder 2 bis 4 in Deutschland, Nummer 1, das ab dem kommenden Jahr saniert wird, in der Schweiz. Das bedeutete für Kistner und sein Team einen überdurchschnittlichen Planungsaufwand: So konnten die Getriebebestandteile aus logistischen Gründen nur über die Schweizer Seite abtransportiert werden, wurden aber in deutschen Spezialbetrieben überprüft und gereinigt. Die Unmengen Sand und Abfall, die beim Sandstrahlen in den Wehrfelder 2 bis 4 anfielen, mussten nach dem Verursacherprinzip über einen Staubsauger so gross wie ein Laster in Deutschland entsorgt werden. Der Abfall von Wehrfeld 1 wird hingegen in der Schweiz verbleiben.

Die Wehrfelder dürfen nur einzeln auseinandergebaut werden, damit bei Hochwasser noch genügend Felder zur Regulierung des Wasserpegels zur Verfügung stehen. Beim Ausbau wurde jedes einzelne Teil nummeriert. Mit dem Sandstrahler wurde das zentimeterdicke Haftfett von 100 Jahren entfernt: «Als sie zurückkamen, sahen wir zum ersten Mal, wie die Zahnräder eigentlich aussahen», lacht Kistner. Die Getriebekomponenten wurden mithilfe magnetisierter aufgesprühter fluoreszierender Metallpartikel auf Materialschäden untersucht. Die Lager der Winden vor Ort wurden im Mikrometerbereich auf ihre korrekte Lage überprüft. «Bei Tausenden Komponenten muss man den Fehlerteufel von Anfang an austreiben», sagt Kistner ernst und lobt die Motivation und die Identifikation der Energiedienst-Mitarbeiter mit diesem Projekt: «Es ist ihr Kraftwerk.»

Besonders dramatisch schildert Kistner die erwähnte Entfernung des alten, umweltschädlichen Korrosionsschutzes an den Lagern und der Stahl-Fachwerkskonstruktion mittels Sandstrahlen: Die Arbeiten konnten nur in einem hermetisch dichten Überbau stattfinden, in dem es sehr warm und bis auf LED-Leuchten dunkel war. Die Arbeiter konnten in ihren Schutzanzügen laut Kistner kaum sehen und seien nach rund zwei Monaten «betriebsblind» geworden, sodass sie nicht mehr alle Reststellen des Korrosionsschutzes hätten sehen können. Er und zwei Experten hätten dann alle Teile überprüft und übersehene Stellen zum erneuten Sandstrahlen mit farbigen Klebstreifen markiert. Der neue Korrosionsschutz sei dann in vier Schichten aufgebracht worden, jede mit einer anderen Farbe, um wiederum nach jeder Schicht gut sehen zu können, wo eine Fläche vergessen worden war.

Bewunderung für Baupioniere
Immer wieder bringt Kistner seine Bewunderung für die damaligen Baupioniere zum Ausdruck. Um mit dem Bau der Wehrpfeiler zu beginnen, hat er recherchiert, sei es notwendig gewesen, je eine riesige Stahlglocke mit der Öffnung nach unten im Rhein zu versenken. Diese Stahlgehäuse hätten mit Ketten und Winden an die richtige Position im Rhein gezerrt, versenkt und gegen Auftrieb beschwert werden müssen. Mit Pressluft sei das Gehäuse des Wassers entledigt worden, um eine «atembare» Atmosphäre für die Bauarbeiter auf dem Rheingrund zu schaffen. 300 000 Kubikmeter des teilweise granitenen Rheinbetts seien weggesprengt worden, um eine ebene Fläche zu erhalten. Bis heute hat Kistner aber nicht herausgefunden, wie und wo der letzte Stein der aus dem Wasser ragenden, runden Vorköpfe der Trennwände zwischen den Wehrfeldern eingesetzt wurde. Es fänden sich keinerlei Spuren an den Steinen. Die derzeitige Sanierung dokumentiert Kistner deswegen sehr genau: Die Ingenieure, die im Jahre 2066, wenn die Konzession abläuft, vielleicht wieder das Stauwehr auseinandernehmen, sollen wissen, wie es heute gemacht wurde.


Image Title

1/10

Möchten Sie weiterlesen?

Ja. Ich bin Abonnent.

Haben Sie noch kein Konto? Registrieren Sie sich hier

Ja. Ich benötige ein Abo.

Abo Angebote