«Jeder wollte überleben»

  20.08.2020 Gipf-Oberfrick

Im Januar reiste Franz Häseli aus Gipf-Oberfrick wie jedes Jahr beruflich nach Südamerika. Nachdem er eine Gruppe durch Kolumbien geführt hatte, kehrte er Anfang März nach Argentinien zurück. Mitte März erreichte die Corona-Pandemie Südamerika. Von da an sass Häseli in Argentinien fest – bis er im Juli unter schwierigen Bedingungen heimreisen konnte.

Simone Rufli

Kaum hatte Franz Häseli im März die beiden Reisegruppen verabschiedet, kam auch in Argentinien, wo er auf die nächste Gruppe warten wollte, der Lockdown. Radikal. Von heute auf morgen. Ohne jede Vorwarnung. «Zehn Tage würde das dauern, hiess es zuerst», erzählt Häseli im Garten des Elternhauses in Gipf-Oberfrick. «Dann wurde verlängert, immer wieder. Warum, das wussten auch gebildetere Menschen nicht. Und erst recht bemühte sich niemand, die Leute in den Armenvierteln zu informieren.» Die Gerüchteküche habe gebrodelt. Die Verzweif lung unter den Ärmsten sei gewachsen. «Je länger es dauerte, umso mehr Abstriche mussten an der totalen Ausgangssperre gemacht werden. Arztbesuche und Lebensmittel-Einkäufe wurden gestattet. Selbst Märkte in den Slums wurden erlaubt. Es gab keine andere Möglichkeit mehr für die Menschen ganz unten, als alles zum Verkauf anzubieten, was sie nicht unbedingt brauchten. Mit dem bisschen Geld kauften sie Essen.»

Das Tragen von Schutzmasken wurde Pf licht. Wer unerlaubterweise draussen erwischt wurde, wurde mitgenommen – «je nachdem». Häseli schüttelt den Kopf: «In den Armenvierteln liess man die Leute ohne Masken gewähren. Hätte man sie verhaftet, hätte der Staat für ihre Verpf legung auf kommen müssen.» Die Schutzmaskenpflicht wurde eingeführt, obwohl es kaum Schutzmasken gab und bald auch keinen Alkohol mehr zur Desinfektion. Franz Häseli und seine Tochter, die in Kolumbien Freunde besucht hatte und sich später mit dem Vater im argentinischen Salta traf, kamen trotzdem zu je einer Schutzmaske. Das erlaubte ihnen kurze Ausflüge

von der Finca, wo sie wohnten, in einen nahegelegenen Laden, ohne vom Militär angehalten zu werden. «Der Tierarzt, der regelmässig auf die Finca kam, schenkte uns zwei Masken. Beziehungen sind alles in den Ländern Südamerikas.» Häseli schmunzelt wird aber gleich wieder ernst. «Plötzlich hiess es, dass Menschen mit ungerader Dokumentennummer an bestimmten Tagen raus durften, jene mit gerader Nummer an anderen. Viele Bewohner der Armenviertel haben aber gar keine Dokumente.»

Es gab keine Flüge, keine Busverbindungen, alles war stillgelegt. Auf die Frage, warum er darauf verzichtete, gleich Mitte März einen von der Schweizer Botschaft organisierten Repatriierungsflug von Buenos Aires nach Zürich zu buchen, meint Häseli: «Diese Art der Heimschaffung wäre uns sehr viel teurer zu stehen gekommen. Zudem waren wir fast 2000 Kilometer von Buenos Aires entfernt in Salta und auf der Finca von Freunden ging es uns gut beim Heuen, Holzen, Backen, Kochen, Sport, Tiere versorgen und Tanzen. Der Tierarzt ist ein begeisterter Tango-Tänzer. Unter dem Vorwand, zu den Tieren schauen zu müssen, genoss er eine grosse Bewegungsfreiheit.» Die hatten trotz allem auch die beiden Fricktaler. «Wir hatten zwei Hektaren Umschwung und aufgrund der Nachrichten aus der Schweiz rechtzeitig genug Vorräte eingekauft.»

Diebstähle nahmen zu
Dass es den Bewohnern auf der Finca gut geht, sprach sie schnell herum. «Bald standen täglich Mütter mit ihren Kindern vor unserer Türe und bettelten nach ein bisschen Reis.» Geben ja, aber nicht zu viel, hiess die Devise. «Sonst wären immer mehr gekommen.» Der Staat habe zwar per Dekret angeordnet, dass die Preise für Grundnahrungsmittel nicht erhöht werden dürfen. «Daran gehalten hat sich niemand.» Auch habe der Staat Hilfsgelder bereitgestellt. «Aber allein für die Anmeldung mussten die Menschen in kilometerlangen Schlangen anstehen.» Und dann hiess es warten auf die Hilfe. «Wobei es höchst ungewiss ist, ob sie je bei den Bedürftigen eintreffen wird», so Häseli. In der Zwischenzeit nahmen die Diebstähle zu. «Jeder wollte überleben. Unseren Hunden auf der Finca kam je länger je mehr eine Schutzaufgabe zu.»

Kaum Informationen
«Am Anfang dachte ich, es spielt für mich keine Rolle, einen Monat länger in Argentinien bleiben zu müssen. Unser grösstes Problem war zu Beginn, wie kommen wir an Informationen. Zugang zu Internet hatten wir nur zeitweise.» Heute gesteht Häseli ein, dass er nie damit gerechnet hat, dass es am Ende über drei Monate gehen würde, bis er in Begleitung der Tochter die Heimreise antreten konnte. «Ich machte mir je länger desto mehr Sorgen, weil unsere Aufenthaltsbewilligung auf drei Monate befristet war.» Sorgen, die sich im Nachhinein als unbegründet erwiesen. «Die Behörden hatten alle Fristen automatisch verlängert – nur wussten wir das nicht.»

Nicht ohne Beziehungen
So dankbar Häseli für die Unterstützung der Schweizer Botschaft ist – «ihr verdankten wir unter anderem, dass wir von der Wiederaufnahme der Linienf lüge ab Sao Paulo im Juli erfuhren und dass wir die Bewilligung erhielten, durch alle argentinischen Provinzen zu reisen, um an die Grenze zu Brasilien zu gelangen; so sicher weiss er auch, dass es ohne Beziehungen trotzdem nicht gegangen wäre. «Die Provinzen sind in Argentinien sehr autonom, die Grenzkontrollen strenger, als wenn man anderswo von einem Land ins nächste reisen will. Und die Willkür ist unberechenbar.» Beziehungen brauchte auch der Taxifahrer, der Vater und Tochter nach langen Verhandlungen in rund 22 Stunden von Salta vorbei an 29 Polizeikontrollen und über die Distanz von 1600 Kilometer an die Grenze zu Brasilien chauffierte und der danach den gleichen Weg wieder zurückfahren musste. «Ohne Beziehungen hätte er nach seiner Rückkehr zwei Wochen in Quarantäne müssen, was ihm einen nicht verkraftbaren Lohnausfall eingebracht hätte», weiss Häseli. Von der Grenze f logen Häselis schnurstracks nach Sao Paulo und von dort noch gleichentags mit dem ersten Linienflug Richtung Heimat.

Vor 31 Jahren reiste Häseli zum ersten Mal nach Südamerika. Unzählige weitere Aufenthalte folgten. Seine immer reicheren Erfahrungen, die Vertrautheit mit der Sprache, mit den unterschiedlichen Mentalitäten und seine weitreichenden Beziehungen nutzt Franz Häseli seit vielen Jahren, um Kleingruppenreisende durch den Kontinent zu führen. Vor allem seinen Beziehungen zu einf lussreichen Leuten sei es zu verdanken, dass seine Geschichte ein Happy End gefunden habe. Franz Häseli vermutet, dass nicht alle so viel Glück hatten: «Ich bin sicher, es gibt noch Schweizer, die wegen Corona irgendwo auf der Welt gestrandet sind.»

 


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