Wir müssen raus!
02.02.2020 ObermumpfIhnen wäre die Stadt ein Käfig, die Natur ist ihr Spielplatz. Jan Vögeli (links) und Jannis Bitter nahmen die NFZ mit auf einen Streifzug durch ihr Dorf. Wo sind wir? In Obermumpf. Und zwar draussen. Aber so richtig draussen. (rw)
Wenn sich der Nebel lichtet
Aussenrum und doch mittendrin: Heute ist die NFZ in Obermumpf unterwegs
Zwei junge Kollegen, die sich blind verstehen, und ein Beobachter, der am Ende doch noch klar sieht. Eine etwas andere Entdeckungsreise.
Ronny Wittenwiler
Ein Samstag im Januar, tiefster Winter also, und die Sonne lacht über Obermumpf, als hätte der Frühling bereits Betriebstemperatur erreicht. Treffpunkt: die Schulanlagen. Es ist angerichtet für einen weiteren Spaziergang durch eine Fricktaler Gemeinde – ein geländetauglicher Wagen fährt vor, der Fahrer schaut zum Fenster hinaus: «Zu Fuss hätten wir zu lange.» Los geht ein Spaziergang auf vier Rädern. Die nächsten eineinhalb Stunden erkunde ich mit meinen beiden Reiseführern die junge Obermumpfer Seele in ihrem Kern. Der Blick darauf ist gar nicht so einfach, und so passt irgendwie das Bild, das sich bei unserer ersten Station präsentiert.
Obermumpf trägt einen Schleier, Dunst trübt die klare Sicht. Und doch lässt sich erahnen, was sich dem Betrachter an besonders klaren Tagen eröffnet von hier oben: Ein wundervoller Panoramablick auf diese Tausendseelengemeinde im Fischingertal, eingebettet zwischen Mumpf unten, Schupfart oben, den Hängen links und rechts. Und weil es unhöf lich wäre, die beiden Reiseleiter nicht endlich vorzustellen, voilà: Jannis Bitter, 19, seit einem halben Jahr ausgelernter Landwirt; Jan Vögeli, 18, Zimmermann-Lehrling. Die beiden, was für eine Überraschung, sie sehen sich an diesem Tag nicht zum ersten Mal. Zusammen sind sie Freunde fürs Leben. Das begann schon früh. «Dort unten im Rebberg haben wir als Kinder meinem Grossvater bei der Traubenlese geholfen», sagt Jannis. Die beiden Kollegen, so dünkt es, verstehen sich blind, «wir kennen uns, seit wir schnuure chönne», sagt Jan. Zur redseligen Sorte gehören sie nicht.
Dennoch müssen wir darüber reden: «Natürlich», sagt Jannis, «wir sind schon eine Art Bauernkaff zusammen mit Schupfart.» Wie er das sagt, verzieht der junge Mann keine Miene. Stolz vielmehr schwingt mit über dieses Ländliche und über den Umstand, dass hier, wo Fuchs und Hase einander gute Nacht sagen, selbst die Menschen noch miteinander schwatzen. «Also für mich ist das schon schlimm genug, wenn ich mal nach Basel muss, die Leute dort sind schon ein bisschen anders», sagt Jannis. Jan legt noch einen drauf: «Ich mag es nicht, wenn ich die Leute nicht kenne. Ich könnte mir nicht vorstellen, in der Stadt zu wohnen. Für mich wäre Möhlin schon schlimm genug.»
Wir fahren weiter.
Baumhüttenromantik
«Müssen wir etwas vom Dorf zeigen?» Die Frage von Jannis kommt zwar etwas überraschend, doch letztlich ist sie nichts anderes als ein Abbild dessen, wo sich die beiden jungen Männer wirklich zuhause fühlen: draussen im Freien. Von der einen Hangseite geht es wieder runter und dann gleich wieder hoch die andere. Vom Rebberg des einen Grossvaters hinein in ein Stückchen Wald von Jans Familie. Wir steigen aus und gehen einen leicht abschüssigen Pfad hinauf. So kommen wir doch noch zu unserem Spaziergang. Das Auto wird nicht verriegelt. «Das schliesse ich hier nie ab», sagt Jannis. «Ausser du bist gerade in Möhlin?» Meine Frage quittiert er mit einem Lachen, sonst wortlos. Wir sind da. Die beiden setzen sich auf einen Baumstrunk.
«Dieses Stückchen Wald gehört unserer Familie», sagt Jan. Neun, vielleicht zehn Jahre alt seien sie gewesen und beinahe jeden Mittwochnachmittag haben sie hier mit ein paar Kollegen allein verbracht. «Wir machten Feuer, brätelten Würste und sägten am Totholz herum.» Grosse Freiheit für kleine Buben. «Und am Abend holte uns meine oder seine Mutter wieder ab», sagt Jannis, während Jan sich eine halbleere PET-Flasche greift, die jemand hier liegengelassen hat. Er wird sie mitnehmen und später entsorgen.
Ihre Erzählungen haben eine gew isse Baumhüttenromantik, doch tatsächlich, die beiden Kollegen hatten diese vor noch nicht so vielen Jahren hier draussen real gelebt. «Immer nur im Zimmer sitzen, das ist nichts für mich. Mit elf oder zwölf Jahren habe ich einem Bauer im Dorf geholfen.» Und Jan? «Ich musste immer schon raus, funktionieren, wirken. Für einen Bürojob hätte ich die Nerven nicht dazu.»
Hier draussen, im Wald unter Bäumen, richtet sich der Blick in die Zukunft. Die Gedanken ans Aus- beziehungsweise Wegziehen sind noch weit weg. Vielleicht gar hier in Obermumpf selbst mal ein Haus bauen, das sei durchaus eine Option. «Allein schon wegen des ganzen Umfelds kann ich mir kaum vorstellen, einmal weit weg von hier zu wohnen», sagt Jan. Verliebt in Obermumpf, das sind sie beide.
Zurück beim Auto geht es weiter die Waldstrasse entlang, bald sind wir soweit und dann haben wir beinahe das ganze Dorf umrundet. Nicht, dass hier im Wald irgendjemand einen Bus erwarten würde, keinesfalls, aber für Jan ist klar: «In Obermumpf bist du eigentlich auf ein Auto angewiesen. Bis ich mit dem ÖV in Frick bin, dauert es 45 Minuten. Nach Lenzburg in die Berufsschule dauert es zwei Stunden.»
Nicht genug
Angekommen an einem Wegkreuz, wieder mit so einem Aussenblick auf die Gemeinde, liegt dieses Obermumpf jetzt klar und deutlich zu unseren Füssen und in meinem Geiste verzieht sich ebenfalls ein Schleier, ich bekomme eine Ahnung: Es ist, als wollten die beiden jungen Männer vor allem die Umgebung sprechen lassen, weshalb sie sich hier in Obermumpf so wohl fühlen. Einfach mal die Augen öffnen. Schweigen für einen Moment – und geniessen. Jannis und Jan, die beiden jungen Obermumpfer, mittendrin in dieser Dorfgemeinschaft, bekommen nicht genug von diesem Aussenrum. Obermumpf mit seinen Hügeln und Wiesen, den rauschenden Wipfeln – all das ist für sie ein Platz an der Sonne. Neben dem Kreuz stehend, spontan die Frage: Angenommen, der Herrgott müsste die beiden noch einmal vom Himmel werfen – darf es wieder Obermumpf sein? «Ich würde mich sehr freuen. Ich habe hier doch alles und genau das würde ich nicht mehr hergeben wollen.» Jan schiebt nach: «Ja. Definitiv.»
Die Schlussrunde verschlägt uns dann doch noch, tatsächlich, runter ins Dorf. An unserem ursprünglichen Ausgangspunkt kommen wir zu einem Ende: Hier besuchten sie Kindergarten und Primarschule, hier wurden Freundschaften geknüpft. Noch einmal kommen wir ins Plaudern und der leichte Dunst, den man von hoch oben bei der Betrachtung aufs Dorf noch wahrgenommen hatte, er ist jetzt definitiv verschwunden. Jannis und Jan, die beiden Kollegen, machen sich langsam auf den Heimweg. Dasselbe habe auch ich vor: «Ich gehe wieder runter. Nach Möhlin.» – «Ach so. Du wohnst in Möhlin? Sorry, das wussten wir nicht.»
Alle miteinander vereint
Jannis Bitter ist Mitglied der Guggenmusik, den «Räblüüs Obermumpf». Jan Vögeli ist Mitglied beim Turnverein Obermumpf. Beide erzählen sie davon, wie man das so oft zu hören bekommt bei den Streifzügen durch die Fricktaler Dörfer: Die Kameradschaft, diese Gemeinsamkeit, das sei es, was sie am hiesigen Vereinsleben derart zu schätzen wissen. Es ist eine Kameradschaft, die weit über die blosse Turnstunde oder die Musikprobe hinausgeht. Wenn aber Jannis Bitter nach der diesjährigen Fasnacht sein Instrument zur Seite legt, dann steht ihm bald ein besonderes Abenteuer bevor: Er wird acht Monate in Kanada leben, nahe Calgary, und dort auf einem Hof als Landwirt arbeiten. (rw)