«Heute spricht man über solche Sachen»

  04.01.2020 Gipf-Oberfrick

Yvonne Brogles Weg von der Glaskunst zur Tantramassage

Nach 20 Jahren in der Glaskunst, einer psychotherapeutischen Ausbildung und einer Ausbildung in Tantramassage verhilft die Gipf-Oberfrickerin Yvonne Brogle in ihrem Atelier in Frick Klientinnen und Klienten mit intimen Berührungen zu neuer Lebensenergie. Unantastbar sind dabei nur die Grenzen, die sie bereits im Vorfeld setzt.

Simone Rufli

NFZ: Auf Ihrer Webseite lese ich, die Tantramassage soll heilende Kraft in Herz, Verstand und Seele bringen. Sind wir heute aus dem Gleichgewicht?
Yvonne Brogle:
Ja, aber nicht erst seit heute. Die Nachfrage nach Therapien in dieser Richtung ist seit Jahrzehnten gross. Heute sind wir einfach an einem Punkt angelangt, wo wir uns als Gesellschaft auch mit Tabuthemen auseinandersetzen, die schon immer da waren, über die man aber früher nicht gesprochen hat.

Das ist eine positive Entwicklung.
Mich dünkt es, ja. Es heisst oft, es sei heute alles oberflächlich, man berühre sich auch weniger. Das gab es schon immer. Nur kommt es heute mehr an die Oberfläche. Berührungsmangel im Alter oder bei Menschen mit einer Beeinträchtigung, das ist nichts Neues. Jetzt aber sprechen immer mehr Betroffene, Angehörigen oder das Pflegepersonal über diese Bedürfnisse. Die Leute werden nicht mehr einfach in eine Ecke gestellt. Man nimmt ihre Wünsche ernst.

Braucht es neue Angebote, weil die Zeit in der Pflege immer weniger wird?
Zum Teil sicher auch, vor allem aber, weil die Leute länger gut «zwäg» sind. Sie können sich daher auch länger artikulieren und sagen, dass ihnen etwas fehlt. Im Moment kann ich aus Kapazitätsgründen noch nicht in Institutionen gehen, obwohl ich das Programm dazu habe. Ich habe aber schon einen Vortrag halten dürfen beim Altersforum Rheinfelden. Ich sprach zur Alterssexualität, die ein Teil der Tantramassage ist.

Dann kommen also vorwiegend alte Menschen zu Ihnen ins Atelier?
Das Spektrum reicht von 22 bis 90; Männer und Frauen. Es kommen Leute, die ein Problem haben und andere, die einfach zu einer wunderbaren Entspannung kommen möchten. Als ich nach Ende meiner Ausbildung im August 2016 in Frick mein Atelier für Berührungskunst eröffnet habe, war ich schon überrascht, dass im ersten Monat ganz viele Kunden über 70, über 80, einer sogar über 90 Jahre alt waren. Aus den Gesprächen mit ihnen erfuhr ich, dass sie zum Teil schon in Gesprächstherapien waren und noch immer etwas fehlte. Der 90-Jährige hat zum Beispiel viele Jahre lang seine Frau daheim gepflegt. «Weisch, irgendwann möchte ich auch wieder Mann sein dürfen», hat er zu mir gesagt. Das hat mich sehr berührt.

Wie wurden die Leute auf Ihr Angebot aufmerksam?
(Brogle lacht). Viele sind über einen Artikel in der NFZ auf das Angebot aufmerksam geworden. Noch heute gibt es Leute, die aufgrund des Berichts von damals zu mir kommen. Natürlich habe ich auch ein Online-Werbeportal. Und tatsächlich kommen meine Klienten aus Chur, vom Bodensee, aus Freiburg, sogar aus dem Berner Oberland. Das hat mich erstaunt, weil es doch sicher auch dort in der Nähe seriöse Institute gibt.

Kann es sein, dass man lieber dorthin geht, wo einem niemand kennt?
Das kommt vor bei Menschen, die jünger sind. Bei älteren ist viel eher ausschlaggebend, dass ich über 50 Jahre alt bin, eine gestandene Frau mit Erfahrung. Dass ich offen mit meinem Auftritt umgehe. Dass ich nicht erotisch werbe, aber die Sinnlichkeit trotzdem präsent ist. Da fühlt sich jemand gleich anders aufgehoben. Und es erwartet ihn nicht die Therapeutin im weissen Dress. Bei mir dürfen Luxus- und Wohlfühlaspekt im Vordergrund stehen.

Es gibt viele Wohlfühlangebote: Massagen, Yoga, Wellnesswochenenden…
(Brogle nickt und unterbricht die Aufzählung) Und das hier ist etwas ganz anderes. Das kann ich aus eigener Erfahrung sagen. Ich kam zur Tantramassage, da war ich gerade etwa 50 und machte an einem Erschöpfungszustand rum. Von meiner therapeutischen Ausbildung her kannte ich Gesprächstherapien und ich liebe Wellness – nach all dem war mir damals aber nicht. Dann stiess ich in den Medien auf die Tantramassage. Ohne viel Vorwissen habe ich innerhalb von zehn Tagen zwei Tantramassagen gebucht und kam so in einen Energieschub, der mich total überrascht hat. Es nahm mich wunder, wie das funktioniert und warum. Ich begann mich zu informieren.
(Die Lehre des Tantra stammt aus Indien und befasst sich mit allen Themen des Menschseins, einschliesslich der Sexualität. In der Zeit der sexuellen Befreiung kam in der Massage die Berührung des ganzen Körpers dazu, vorher liess man den Intimbereich aus. Man begann durchgehende Energielinien zu behandeln. In den 1980er Jahren gelangte die Tantramassage aus Indien nach Berlin, wo das erste Tantra-Institut Europas entstand.)

Mir hat die Verbindung des ganzen Körpers eingeleuchtet. 2015 bin ich spontan nach Berlin gereist und machte die Ausbildung. Ich habe mich auch als Modell für andere lernende Frauen zur Verfügung gestellt. Schliesslich musste ich wissen, ob ich selber bereit bin, mich intim massieren zu lassen, bevor ich wirklich in die Ausbildung gehe. In der Tantramassage geht um die neutrale, wertfreie Begegnung von Mensch zu Mensch auf gleicher Ebene. So ist es für mich auch ganz selbstverständlich, Menschen mit körperlichen Beeinträchtigungen anzunehmen. Immer in achtsamer Absprache, was gewünscht wird und was jeweils möglich ist. Daraus entstehen wunderbar berührende Prozesse.

Sie sprechen auch Paare an…
Ich nehme Paare an, die es im Alltag gut miteinander haben. Das hier ist kein Anlass, der als Paartherapie funktioniert. Bei so viel Intimität darf es keinen Stress geben während der Paarmassage. Doch die Paare können hier spielerisch rausfinden, wie sie sich gegenseitig mit speziellen Berührungen neu kennenlernen können.

Lassen Sie sich von den Klienten berühren?
Ja, ich lasse mich nach Absprache auch berühren, weil ich festgestellt habe, dass gerade ältere Leute zum Teil 30 Jahre lang niemanden mehr berühren durften. Das ist dann nie ein grabschen, sondern sehr ehrfurchtsvoll. Ich habe schon oft erlebt, dass eine herzliche, innige Umarmung dazu geführt hat, dass ein Mensch aus seinen trüben Gedanken herausgeholt wurde, während das mit Medikamenten vorher nicht möglich war.

«Es muss nichts, es darf alles», schreiben Sie auf der Homepage – wo sind die Grenzen?
Über die Grenzen wird schon am Telefon gesprochen. Die sind ganz klar: Es gibt keinen Verkehr mit mir! Darüber gibt es auch keine Verhandlung. Ich sage klar zu den Kunden: Wenn du so etwas willst, bist du hier nicht richtig. Bei mir bekommst du eine wunderbare Massage vom Haaransatz bis zur Zehenspitze, aber ich als Person bin nicht verhandelbar. Dass jemand mal Lust hat auf mehr, kommt vor, aber es reicht, wenn ich sage, dass das nicht geht.

Kommt es vor, dass Hausbesuche gewünscht werden?
Ja, das kommt vor. Bei jüngeren Leuten mache ich das aus Prinzip nicht. Bei älteren Menschen wäre es möglich. Es ist aber so, dass sie mir die Reise finanzieren müssten.

Sich vertrauensvoll fallenlassen, wie schafft man das bei einer Person, die man nicht kennt?
Ich mache mir keine Gedanken darüber. Oft entsteht Vertrauen schon mit der ersten Berührung nach dem Hereinkommen. Wir trinken zuerst Tee. Dann erkläre ich, dass man draussen duschen kann. Dabei habe ich schon mein traditionelles Lungi-Tuch an und bin damit schon viel verletzlicher, als der Mensch, der noch ganz angezogen ist. Dann begibt er sich auf meine Ebene, indem er sich auch auszieht. Ich helfe ihm in den Kimono, gebe ihm das Tuch für die Dusche. Er kommt zurück. Es kommt das Begrüssungsritual. Dann fallen beide Hüllen und wir sind beide auf einer Ebene. Wobei ich mein Tuch zuerst fallen lasse. Danach sind schon viele Hürden abgebaut. Weitere fallen, wenn ich beginne, heisse Tücher auf verspannte Stellen zu legen. Je mehr die Leute sich entspannen, umso weiter weg sind sie dann. Das fällt mir auf, wenn draussen die Feuerwehr mit Sirene vorbeifährt und die Klienten gar nichts davon mitbekommen.

So eine Behandlung kann ganz viel auslösen…
Darum bin ich froh, dass ich eine fundierte therapeutische Ausbildung habe und das gut auffangen kann. Denn in dieser Situation darf man die Klienten nicht allein lassen. Bei mir hat man die Möglichkeit, auch nach der Behandlung noch zu sprechen, oder später noch mit mir zu telefonieren.

Kommen viele wieder?
Ja! Und trotzdem muss ich beim Marketing immer dranbleiben. Die Leute sprechen in ihrem Umfeld meist nicht über das, was sie bei mir erlebt haben.

Ursprünglich sind Sie Glasmalerin.
Ja, gelernte Glasmalerin und Kunstglaserin und ich war über 20 Jahre im Beruf. Obwohl das total anderes Material ist, ist es für mich immer noch eine wichtige Ressource. Die Schönheit vom Objekt ist für mich wichtig. Es soll stimmig sein. Nicht die Ästhetik des Menschen, sondern was ich mache, soll stimmig sein. Ich habe wohl auch dadurch keine Berührungsängste. Dazu kommt, dass ich mich direkt nach der Lehre selbstständig gemacht habe und dadurch ein ganz anderes Selbstverständnis habe, als jemand, der jahrelang angestellt ist.


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