Und meine Seele spannte weit ihre Flügel aus
24.12.2019 TraditionEine Weihnachtsgeschichte
Fortsetzung vom Freitag, 20. Dezember
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«Guten Abend. Kennen wir uns?» Vor ihm, etwas aufgeregt, stand ein junger Mann, ordentlich gekleidet, fast schon festlich und für jemanden, der an einem solch besonderen Tag mit der Tür ins Haus fällt, wirkte er trotzdem – sympathisch. «Einen guten Abend, den wünsche ich Ihnen auch. Sie müssen ein wahrhaft besonderer Mensch sein. Keine Ehefrau käme sonst auf eine solch verrückte Idee.»
Der Alte wusste nicht, wie ihm geschah und da sich dieser freundliche aber gleichwohl sonderliche Besucher, ohne Zweifel, in der Adresse geirrt haben musste, war er bereits im Begriff, ihn höflich darauf hinzuweisen. Doch dann sagte der junge Mann: «Ich möchte Ihnen etwas zeigen, das ist grösser als Venedig; denken Sie an die Worte Ihrer Tochter und haben Sie Vertrauen.»
Er nahm die Suppe vom Herd, zog sich seinen Mantel an und setzte den Hut auf. Dann fiel die Tür ins Schloss.
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Es war nach ihrem ersten Schwächeanfall. Die Idee war verrückt; doch griff sie zum Telefon, schilderte ihnen ihre Geschichte und vor allem: sie erzählte von ihrem letzten Wunsch. «Ihr Herz ist vielleicht schwach geworden, doch ist es gross», teilte man ihr schon bald einmal mit und ein junger Mann, einer der Freiwilligen, habe sich bereit erklärt, «der macht das für Sie.»
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Kurz nachdem sie gestorben war, erhielt der junge Mann von der Tochter einen Anruf: «Sie hat ihre letzte Reise angetreten.» Er werde da sein, sagte er dann und jetzt, an Heiligabend, nahm er ihn mit zu den Sternen.
Immer höher und höher stiegen sie hinauf, mit jeder Stufe, die sie erklommen, kamen sie näher und dann, endlich, waren sie da. «Ihre Frau muss Sie sehr geliebt haben», sagte der junge Mann. Er griff nach dem Schlüssel und dann war es soweit – er öffnete ihm das Tor zum Himmel.
Alles war vorbereitet. Inmitten des Raums unter einer atemberaubenden Kuppel stand dieses gigantische Teleskop. Er war jetzt ganz allein.
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Als hätte sich vor ihm der Himmel auf Erden zur Ruhe gelegt und das Universum, nur diesen einen Moment, hielt seinen Atem an, um für alle Ewigkeit das erhabenste aller Gemälde zu vollenden: Millionen von Sternen, vor ihm breiteten sich jetzt Millionen von Sternen aus, Sterne von ergreifender Schönheit, die ihn Raum und Zeit vergessen liessen.
«Es war ihr innigster Wunsch», hörte er plötzlich jemanden leise sagen, der Klang der Stimme ihm wohlvertraut. Er drehte sich um und vor ihm stand seine Tochter: «Für dich wird sie immer scheinen. Sie wollte, dass du das weisst. Wir alle sind bloss ein Wimpernschlag im Universum. Für Mutter warst du die Welt.»
Dann versagte ihre Stimme und sie bemerkte, wie sehr dieses kleine Mädchen ihre Hand drückte. Es lächelte: «Ihr wisst ja beide. Über die Sternenleiter gelangen die Menschen in den Himmel.»
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Sein Blick schweifte zum Fenster hinaus in eine klare Nacht und er erinnerte sich an ihre Worte. Was wäre der Himmel ohne seine Sterne? Es war schon spät, als er sich schlafen legte. Neben ihm, ganz nah, im Licht einer Kerze, lächelte seine Frau. Und unter diesem letzten Bild von ihr standen die Worte, mit denen sie den Menschen hier unten auf Erden auf Wiedersehen gesagt hatte. Dann schloss er die Augen.
Und meine Seele spannte weit ihre Flügel aus, flog durch die stillen Lande, als flöge sie nach Haus.
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Ronny Wittenwiler