«Wir sind für alle da»

  12.01.2019 Frick

Rebecca Schaffner ist seit zehn Jahren Schulsozialarbeiterin in Frick

Die 39-jährige Schulsozialarbeiterin Rebecca Schaffner arbeitete zuvor in der Krisenintervention in Basel. Die NFZ unterhielt sich mit ihr über Wertewandel, Social Media-Einflüsse, Entwicklungsthemen und wie man Hänseleien erfolgreich begegnet.

Simone Rufli

NFZ: Frau Schaffner, warum sucht jemand die Unterstützung der Schulsozialarbeit?
Rebecca Schaffner:
Das hat ganz unterschiedliche Gründe. Wir sind ja für alle da. Sowohl Schülerinnen und Schüler als auch Lehrpersonen, Familienangehörige oder die Schulleitungen können das Angebot nutzen. Die Anliegen sind daher auch ganz verschieden. Zu uns kommen Themen wie: meine beste Freundin hat mich auf dem Handy blockiert, Liebeskummer, Ausgrenzung, die Eltern wollen sich scheiden lassen, Krankheit oder Todesfall in der Familie, Sorgen um die Zukunft. Bis hin zu den ganz extremen Themen, die es natürlich wie überall auch in Frick gibt, beispielsweise Selbstverletzungsgedanken, grober Umgang zu Hause bis hin zu häuslicher Gewalt. Und dann gibt es wieder solche, die kommen einfach nur, um mit uns zu plaudern. Obwohl wir eine grosse Schule sind, ist es doch noch sehr ländlich. Aber den Menschen mit seinen Entwicklungsthemen, den gibt es auch an der Schule Frick. Es ist nicht ein einzelnes Thema, das uns speziell beschäftigt.

In welchen Situationen treten besondere Belastungen auf?
Es gibt Jugendliche, für die sind Veränderungen schwieriger als für andere, weil sie Unsicherheiten auslösen. Das kann beispielsweise bei einem Neuanfang an der Oberstufe oder beim Wechsel an weiterführende Schulen oder beim Einstieg in die Arbeitswelt sein. Beim Übertritt von der Primar- an die Oberstufe sind wir von der Schulsozialarbeit seit rund zehn Jahren präventiv tätig. Wir laden zu einer Schnupperstunde für Kinder aller aussenstehenden Gemeinden ein. Oberstufenschüler empfangen sie und führen sie übers Areal, beantworten ihre Fragen, machen mit ihnen Spiele. Rückmeldungen zeigen, dass dies den Kindern Sicherheit bringt. Mein Kollege Hans Fanderl und ich, der Schulleiter, die Heilpädagogen und der Schülerrat stellen sich vor – alle sind da. Gerade für Kinder, die aus sehr kleinen Gemeinden kommen, ist Frick zweifellos schon eine Umstellung. Wir stellen das Angebot der Schulsozialarbeit nach den Sommerferien auch in allen ersten Klassen vor. Sowohl in der Primar- als auch in der Oberstufe.

Was haben Sie für einen Vorteil, den die Lehrpersonen nicht haben?
Wir haben eine ganz andere Beziehung zu den Schülern. Wir benoten die Kinder nicht. Von uns werden sie in keiner Weise bewertet. Sie können uns auch alles erzählen, wir unterliegen der Schweigepflicht. Das wissen die Kinder. Auch auf dem Pausenplatz. Wir sind ein Seismograph, wir nehmen sehr schnell Entwicklungen und Tendenzen wahr. Wir hören vieles und gehen dann auch auf die Schüler zu, fragen nach. Es ist alles sehr niederschwellig. Oft machen sich Schüler Sorgen um ein «Gschpänli». Fragen, wie sie den Mitschüler ansprechen sollen. Oder sie zeigen uns, was das Kind gepostet hat. Manchmal müssen wir dann selber eingreifen. Wir haben die Kompetenz, Schüler aus dem Unterricht zum Gespräch zu holen.


«Die Schule ist ein Spiegel der Gesellschaft»

Rebecca Schaffner beobachtet eine starke Werteveränderung

Die Schulsozialarbeiterin rät im Interview das reale Leben als Richtschnur fürs Verhalten in der virtuellen Welt heranzuziehen.

Simone Rufli

Die Kinder dürfen also während der Schulzeit das Angebot der Schulsozialarbeit nutzen und zu Ihnen kommen?
Rebecca Schaffner:
In Absprache mit den Lehrpersonen können sie während der Schulzeit kommen. Dann braucht es zu Hause keine Erklärungen. Umgekehrt können sie an einem freien Nachmittag oder gegen Abend kommen, wenn sie nicht möchten, dass andere das mitbekommen. Die Lehrpersonen sind um unsere Unterstützung froh. Mit unserer Arbeit entlasten wir sie auch.

Nimmt das Bedürfnis nach Entlastung seitens der Lehrpersonen zu?
Integrative Schulform halte ich für sehr anspruchsvoll. Der Fachunterricht ist geblieben, aber die Klassenführung hat sich sehr verändert. Neben dem Unterrichten, neben Elterngesprächen und administrativem Aufwand haben sie nicht noch die Kapazität, sich jede Woche mit Schülerinnen und Schülern zu treffen. Zusammenarbeit ist da sehr wichtig, auch mit den Heilpädagogen.

Gibt es bestimmte Zeiten im Schuljahr, die für Sie besonders intensiv sind?
Die langen Schulblöcke bekommen wir schon zu spüren. Die Perioden zwischen den Frühlings- und Sommerferien sowie zwischen den Herbst- und Weihnachtsferien sind am strengsten für die Kinder. Das sind jeweils zehn Wochen. Das ist eine lange Periode, wo sie sich konzentrieren müssen und viele Prüfungen haben. Vor den Sommerferien ist Notenschluss, Ende Januar ist Semesterwechsel. Vor den langen Sommerferien brechen oft Sachen auf, die die Kinder noch mit uns zusammen anschauen wollen.

Sie sind in diesem Monat nun genau zehn Jahre in Frick. Was hat sich verändert?
Die Schule ist für mich ein Spiegel der Gesellschaft. In der Schule treffen Lebenswelten aufeinander. Die Schüler bringen viel von zu Hause mit und die Welten fliessen hier ineinander. Beispielsweise kann es in der Schule mit dem Kind Schwierigkeiten geben, weil das Kind zu Hause Probleme hat oder umgekehrt. In den letzten Jahren hat es grosse gesellschaftliche Veränderungen gegeben. Das spüren wir überall, wo wir arbeiten – im Kindergarten, in der Primar, an der Oberstufe, in der HPS. Es gibt eine starke Werteveränderung in unserer Gesellschaft. Werte, die einem vor 30, 40 Jahren Orientierung gegeben haben, sind nicht mehr allgemeingültig. Das gibt einerseits Freiheiten, andererseits verunsichert es. Das erleben wir immer wieder bei Eltern, die in der Erziehung unsicher sind. Trotz guter Ausbildung, Zugang zu Informationen und Beratungen, ist es für viele Erziehungsberechtigte schwierig, einen eigenen Weg zu finden.

Das ist auch für Jugendliche auf der Suche nach dem eigenen Weg nicht einfach...
Für Jugendliche, die in der Pubertät sind, in der Ablösung von den Eltern, war es schon immer schwierig, den eigenen Weg zu finden. Die vielen Möglichkeiten und Freiheiten heute machen dies nicht einfacher. Manche Eltern reagieren darauf, dass sie die Kinder sehr stark behüten. Vielleicht aus Angst vor dem, was alles passieren könnte. Das andere Extrem ist zu viel Autonomie. Was richtig und was falsch ist, ist nicht mehr in Stein gemeisselt, das macht es herausfordernd. Da ist der Einfluss der Medien auch sehr stark.

Also auch zu viele Freiheiten in der virtuellen Welt?
Es geht oft vergessen, dass man ein Kind nicht nur an die Hand nehmen muss, wenn man mit ihm über die Strasse geht, sondern auch, wenn es sich in den sozialen Medien bewegt. Kinder können das nicht einfach so. Sie können Folgen oft nicht abschätzen. Das fällt uns ja auch schwer.

Für Eltern, die ohne Social Media aufgewachsen sind, eine besondere Herausforderung...
Ich sehe das sogar als Vorteil. Diese Eltern kennen das reale Leben. Sie wissen, dass man nicht in jedes Auto einsteigen darf und daher auch nicht in jeden Chat. Hier geht es wieder um Werte. Werte machen Erziehung aus. Sie sind meinungsbildend. Erziehung ist persönlichkeits- und entwicklungsfördernd und schafft Raum zur Entfaltung. Wir, die ohne Internet aufgewachsen sind, können beispielsweise weitergeben, dass es Dinge gibt, die niemanden etwas angehen und dass man die Privatsphäre schützen muss. Ich halte die neuen Medien trotzdem für toll.

Durchlaufen die Kinder inmitten der medialen Einflüsse heute andere Entwicklungsstadien als früher?
Der Mensch durchläuft die gleichen Entwicklungsthemen wie vor 500 Jahren, vermutlich sogar seit es den Menschen gibt. Die Art und Weise wie er sich damit auseinandersetzt verändert sich. Hatten wir früher Ärger in der Klasse, sind wir heimgegangen und am Wochenende hatten wir Ruhe davon. Heute wird alles sofort in Chats gepostet und es bleibt sichtbar.

Können Sie darauf Einfluss nehmen, wie der Umgang mit den neuen Medien geschehen soll?
Praktisch nicht. Den Kindern beibringen, wie sie mit Handy und Computer umgehen sollen, liegt in der Verantwortung der Eltern. Ebenso wie das Vermitteln von Werten. Wir von der Schulsozialarbeit bieten in der 5. Klasse und in der 1. Oberstufe Medienkompetenztrainings an, unterstützt durch Pro Juventute und Swisscom. Eingreifen tun wir erst, wenn etwas Konkretes vorliegt. Zum Beispiel wenn Kinder von Klassenkameraden im Klassenchat beleidigt werden. Wenn sie in der Freizeit irgendwelchen Typen von sich Fotos schicken, können wir nicht darauf einwirken. Dass sie das gar nicht erst machen, dafür ist das Training.

Hat sich Mobbing in die virtuelle Welt verlagert?
Ich glaube nicht. Aber wenn es zu Mobbing kommt, dann zeigt sich dies auch in den Gruppenchats. Die sozialen Medien sind sehr wichtig. Man darf sie den Jugendlichen auf keinen Fall verbieten. Aber es gelten die gleichen Regeln wie sonst im sozialen Umgang. Mir fällt hier in Frick auf, dass Mobbing im Sinn der Definition selten vorkommt – also dass ein Kind über längere Zeit von einer Gruppe oder von Einzelnen immer wieder gehänselt, ausgegrenzt, oder geschlagen wird, oder seine Sachen kaputt gemacht werden. An der Primarschule gibt es seit Jahren das Peace-Maker-Projekt, dieses wirkt hochgradig präventiv. Natürlich gibt es Ausgrenzung, aber echtes Mobbing ist eher selten. Auch weil die Lehrpersonen gut hinschauen. Die Schüler und Schülerinnen kommen sehr schnell, wenn es nur schon beginnt. Daher kann ich den Betroffenen so gut wie garantieren, dass es wieder aufhört. Die Schulsozialarbeit hat sich etabliert. Eltern, Lehrpersonen und Schüler kommen frühzeitig.

Wie können Sie ganz konkret helfen, wenn ein Kind ausgegrenzt wird?
Wir können neue Verhaltensstrategien mit den Schülern und Schülerinnen erarbeiten und trainieren. Das betroffene Kind in seinem Selbstwert stärken und ihm dabei helfen, eine innere Distanz zu finden. Wir lachen auch viel. Wenn dies gelingt, dann trifft es die Kinder nicht mehr so stark und somit macht es nicht mehr so viel Spass, sie zu ärgern. Wir trainieren schlagfertige und humorvolle Sprüche und plötzlich verliert das ganze die Dynamik.

Es gibt sicher auch Fälle, wo das allein nicht reicht. Was machen Sie dann?
Dann stellen wir aus der Klasse eine Unterstützergruppe zusammen. Ich lade ausgewählte Schülerinnen und Schüler zum Gespräch ein und bitte sie um ihre Unterstützung. Das betroffene Kind ist nicht dabei. Die Kinder freuen sich in der Regel, dass sie helfen sollen. Nach zwei, drei Wochen lade ich die Kinder einzeln ein, um die Veränderungen zu besprechen. Meistens machen plötzlich viele mit und die Situation verbessert sich deutlich. Alle fühlen sich gestärkt und wertgeschätzt. Es geht um Werte, um das Ernstgenommen werden und in jedem Fall immer um Beziehungen.

Wir leben in einer leistungsorientierten Gesellschaft. Ist das spürbar?
Was man in den sozialen Medien darstellt, das ist wichtig. Wie viele Likes man bekommt oder in Jugendsprache wie viel «fame» man hat. Sein und Schein ist schwer zu unterscheiden und löst viel Druck aus. Mädchen finden sich nicht schön genug, Jungs nicht kräftig genug.

Kommt Druck von Elternseite, wenn es um die Schulwahl geht?
Das ist nicht die Mehrheit. Es gibt auch Schüler, die sich den Druck selber machen, die den Wettbewerb mitmachen, die unbedingt in die Bezirksschule wollen. Andere haben sehr hochfliegende Träume. Die sozialen Medien begünstigen das sich Vergleichen und dies tut nicht allen gut. Es ist heute sehr anspruchsvoll Kinder grosszuziehen.

Als Schulsozialarbeiterin sind Sie von der Gemeinde angestellt, ist das ein Vorteil?

Wir sind Teil der Schule, aber nicht von der Schule. Die Schulpflege ist die uns vorgesetzte Behörde. Aber natürlich arbeiten wir eng mit den Schulleitungen und den Lehrpersonen zusammen. Das Anstellungsverhältnis stärkt unsere Funktion als neutrale Stelle.

Ums Kindeswohl kümmern sich auch andere Institutionen. Arbeiten Sie mit diesen zusammen?
Wir legen grossen Wert auf Vernetzung. Sowohl mit Schulsozialarbeitenden aus der Region, als auch aus dem Kanton. So bin ich auch im Vorstand des Vereins der Schulsozialarbeit des Kanton Aargaus (VeSSAG). Wir treffen uns auch regelmässig mit der Jugendund Familienberatung, mit dem Schulpsychologischen Dienst oder mit der Polizei. Auch mit Ärzten und Therapeuten arbeiten wir eng zusammen. Vernetzung verkürzt die Wege. Wir von der Schulsozialarbeit haben eine Triage-Funktion, weil wir oft die erste Anlaufstelle sind. Durch die Niederschwelligkeit ist es einfach, uns Sachen zu erzählen, aber nicht alles kann bei uns bleiben. Als erstes versuchen wir aber immer, mit den Schülern und ihren Eltern eine Lösung zu finden.

Brauchen Sie selber manchmal auch Rat?
Natürlich! Rat und auch Absicherung. Ich kann bei Fachleuten telefonischen Rat einholen, oder die Fachleute zum Gespräch in unser Büro einladen. Ich bin auch sehr froh um die Kinderschutzgruppe. Das ist eine Gruppe von Sozialarbeitern, Psychologen, Psychiatern und Ärzten in Spitälern. Trägt sich ein Kind zum Beispiel mit Selbstmordgedanken muss ich mich absichern, indem ich meine Beobachtungen der Kinderschutzgruppe melde, natürlich unter Verschwiegenheit.

Ihre Arbeit ist vielseitig und jeden Tag anders…
Und manchmal geht es auch nur darum, das Leben ein bisschen zu erklären, Mechanismen aufzeigen und unterscheiden helfen, wo es sich lohnt zu kämpfen und wo man besser abwartet, weil die Zeit die Sache regelt.


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