«Nur über den Besitzer erreicht man das Tier»

  09.01.2019 Zuzgen

Valentin Zumsteg

NFZ: Frau Rutishauser, der Mensch unterscheidet zwischen Nutztieren und Haustieren. Er streichelt die Katze und isst das Kälbchen. Ist das nicht schizophren?

Rahel Rutishauser: Doch, absolut. Es werden Tausende von Tieren täglich getötet und zu Fleisch verarbeitet, während man bei Haustieren alles daran setzt, dass sie möglichst alt werden.

Wie stark müssen Sie als Tierärztin auch Psychologin für die Menschen sein, die das Tier halten?
Sehr stark. Das ist über die Hälfte meiner Tätigkeit, es gehört zu meiner Arbeit. Nur über den Besitzer erreicht man das Tier. Die Psychologie ist sehr wichtig.

Wenn die Haustiere immer mehr zu Familienmitgliedern werden, bedeutet das auch, dass heute mehr operiert und weniger eingeschläfert wird, wenn ein Tier ernsthaft krank oder verletzt ist?
Tendenziell ist das so. Es ist aber auch eine Geldfrage. Aufwändige Operationen können sich nicht alle leisten. Grundsätzlich kann man bei Tieren heute fast alle Eingriffe machen, die es auch für den Menschen gibt. Ich finde es in Ordnung, wenn man sein Geld auch zum Wohle der Tiere einsetzt. Im Zentrum muss stehen, dass das Tier nicht leidet und es ihm nicht schadet.

Gibt es für Sie als Tierärztin dabei Grenzen des Sinnvollen?
Ja, die gibt es. Wenn jemand etwas wünscht, dass aus meiner Sicht keinen Sinn mehr macht, dann versuche ich zu beraten und den Tierhalter zu überzeugen. Ich kann mich erinnern, dass wir den Fall einer Katze hatten, die schwer nierenkrank war und immer wieder unter einer verstopften Harnleitung litt. Beim Menschen gibt es die Möglichkeit, einen künstlichen Ausgang direkt aus dem Bauch zu legen. Das wünschten sich die Besitzer auch für ihr Tier. So etwas ist aber nicht üblich und in diesem Fall war es auch nicht sinnvoll. Das Tier war bei uns hospitalisiert. Ich gab den Besitzern dann die Katze mit nach Hause. Es dauerte keinen Tag, dann kamen sie wieder und wir konnten das Tier von seinen Leiden befreien.

Macht es Sinn, einen alten Hund, der Krebs hat, zu bestrahlen?
Das kann ich allgemeingültig nicht beantworten. Bei einem 15-jährigen Hund würde ich das nicht empfehlen, er hat sein biologisches Limit erreicht. Mit zwölf Jahren sieht es anders aus, da kann es noch Sinn machen. Man muss abwägen und den Einzelfall anschauen.

Was für Implantate gibt es heute für Tiere?
Fast alles wie beim Menschen auch: Schrauben, Platten und künstliche Hüftgelenke. Künstliche Kniegelenke für Tiere sind noch in der experimentellen Phase.

Künstliche Herzklappen gibt es aber noch nicht, oder?
Nein, aber Herzschrittmacher.


«Die Tiere leben vor allem im Jetzt»

Tierärztin Rahel Ruthishauser im Gespräch

Rein biologisch betrachtet gibt es keine grossen Unterschiede zwischen Mensch und Tier, erklärt Rahel Rutishauser im Interview.

Valentin Zumsteg

NFZ: Frau Rutishauer, wieso hält der Mensch eigentlich Haustiere?
Rahel Rutishauser:
Ursprünglich ging es ums Überleben. Der Mensch ging auf die Jagd und hat sich Hilfstiere dafür zugelegt. Später hielt er Kühe, um von der Milch und dem Fleisch zu leben. Das sind heute die sogenannten Nutztiere. Bei den Haustieren hat es auch einen Wandel gegeben. Im 19. Jahrhundert hielt man Katzen und Hunde als Statussymbole. Heute sind es Familienmitglieder, die ihren festen Platz haben. Haustiere haben eine soziale Komponente. Sie dienen teilweise als Ersatz für menschliche Bindungen. Man hat Haustiere, um nicht alleine zu sein. Auf ihren Spaziergängen kommen Hundebesitzer einfacher in Kontakt mit anderen Menschen. Ein anderer Grund: Familien halten Haustiere, damit die Kinder lernen, Verantwortung zu übernehmen. Das ist aus meiner Sicht nicht falsch, sofern die Eltern bereit sind, die Hauptverantwortung zu tragen.

Würden Sie einem einsamen Menschen raten, sich ein Haustier anzuschaffen?
Ja, wenn er Tiere gerne hat und er sich das wünscht, wieso nicht. Man darf dabei aber nicht vergessen, dass Tiere auch etwas kosten.

Man kann heute sehr viel Geld für sein Tier ausgeben. Gibt es da nicht Auswüchse?
Ja, auf jeden Fall. Es ist verrückt, was man heute alles für die Haustiere kaufen kann. Als ich in den USA war, entdeckte ich Seifenblasen mit Speckgeschmack. Die Hunde sollen danach schnappen. Auch bei uns tendieren die Leute dazu, viele verschiedene Accessoires in verschiedenen Farben für ihre Tiere zu kaufen. Sie machen das aber eigentlich vor allem für sich selber.

Können Hunde überhaupt Farben erkennen?
Man geht davon aus, dass Hunde Farben nicht erkennen können. Sie sehen verschiedene Grautöne. Hunde können aber sehr gut erkennen, ob sich etwas bewegt.

Haben Sie selber Haustiere?
Ja, einen Hund, drei Katzen, drei Schildkröten und ein paar Fische im Teich.

Sie sind tierliebend, sind Sie deswegen Tierärztin geworden?
Ich wollte nie etwas anderes werden. Schon im Kindergarten war dies mein Berufswunsch.

Essen Sie selber Fleisch?
Ja, aber nicht viel.

Wo setzen Sie die Grenzen zwischen Mensch und Tier?
Das ist schwierig zu beantworten. Rein biologisch betrachtet gibt es keine grossen Unterschiede. Sonst natürlich schon. Die Tiere leben vor allem im Jetzt, wenig in der Vergangenheit und gar nicht in der Zukunft. Da ist der Mensch ganz anders. Er denkt an die Zukunft und sorgt vor, das ist vielleicht auch ein Grund, warum unser Gesundheitssystem so teuer ist. Eigentlich sollten wir heute auf der Welt so leben können, dass es für Mensch und Tier passt. So wie eine Gesellschaft mit ihren Tieren umgeht, so geht sie auch mit den Menschen um.

Kommt es heute noch vor, dass Haustiere zu Weihnachten verschenkt werden?
Ja, das gibt es schon noch. Aber meistens kommt es nicht überraschend, man hat es in der Familie besprochen und sich darauf vorbereitet. Das Tier ist auch nicht unter dem Weihnachtsbaum, sondern wird einfach in dieser Zeit angeschafft. Ich glaube, die meisten Leute sind da verantwortungsvoll. Wir erlebten vor ein paar Jahren, dass bei uns in der Praxis unbemerkt ein Karton deponiert wurde. Als wir nachschauten, befanden sich zwei Meerschweinchen darin. Wir konnten nicht eruieren, wem die Tiere gehörten. So etwas ist aber eine grosse Ausnahme.

Sind die Haustiere heute dicker als früher?
Das kann man so nicht sagen. Ich beobachte aber Folgendes: Hat jemand ein dickes Haustier und es stirbt, dann ist die Wahrscheinlichkeit gross, dass auch sein nächstes Tier dick wird. Der Mensch meint, er tue etwas Gutes, wenn er dem Tier viel Futter gibt.

Bei den Haustieren gibt es immer wieder Trends. Welche Tierarten sind derzeit in Mode?
Ich kann sagen, was nicht mehr Mode ist: Ratten und Chinchillas. Reptilien sind hingegen eher im Kommen, zum Beispiel Bartagamen, Schildkröten und Schlangen.

Was war der speziellste Fall, den Sie in den vergangenen Jahren erlebt haben?
Ich erinnere mich an zwei besondere Fälle: Die Leute hielten Schlangenhals-Schildkröten in einem Terrarium mit Miniwelsen. Es ist in der Natur nicht vorgesehen, dass sie im gleichen Gebiet leben. Die Schildkröte frass einen Miniwels und dieser verkeilte sich in ihrem Hals, das war von blossem Auge deutlich zu sehen. Wir mussten der Schildkröte eine Narkose geben, dann konnten wir den Fisch im Hals zerschneiden und ihn stückchenweise herausholen. Ein anderes Mal gab es einen Hund, der eine Windel gefressen hatte. Die kleinen Kügelchen füllten sich mit Flüssigkeit. Als wir ihn röntgten, sah es aus als hätte er ein Kugellager im Magen. Wir mussten ihn operieren.

Zum Schluss: Was ist Ihr Wunsch für 2019?
Ich wünsche mir mehr Toleranz. Die Leute tendieren dazu, mit dem Zeigfinger immer auf andere zu zeigen. Das finde ich schade. Es nützt niemandem.


Rahel Rutishauser und «Animo»

Rahel Rutishauser betreibt mit ihrem Mann Paul Rutishauser und der Tierärztin Petra Neuhold-Rohrer das «Animo Tiergesundheitszentrum» in Zuzgen. Insgesamt arbeiten sechs Personen im Betrieb, der 2004 gegründet wurde. Rahel Rutishauser ist in Romanshorn aufgewachsen. Die 50-Jährige wohnt mit ihrer Familie in Zuzgen. (vzu)


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