Das Feuer vom Heiligen Abend

  21.12.2018 Literatur

Eine Weihnachtsgeschichte

Fortsetzung von gestern

 * * *

Er schlug es in der Mitte auf und begann zu blättern. «Nichts.» Er hielt inne. «Da steht nichts geschrieben.» Seine Frau aber sagte jetzt: «Ganz vorne, auf der ersten Seite.» Er schaute nach. Es war der einzige Eintrag. Alle anderen Seiten waren leer. So, als hätte seine Mutter danach, noch lange vor ihrem Tod, bereits aufgehört zu leben.

Dann begann er zu lesen.

* * *

«Mein Kind», stand dort geschrieben. «Lange bevor du geboren wurdest, stand meine Welt bereits in Flammen.» Er stockte. Nach diesem kurzen Moment des Zögerns fuhr er fort. «Und ich wusste nicht, wie ich dir ein Leben bieten sollte, das du so sehr verdient hast. Vielleicht wirst du mir eines Tages verzeihen. Ich werde es nie.»

Die Zeilen endeten mit denselben handgeschriebenen Worten wie damals vor mehr als dreissig Jahren, als sie ihm ein erstes Mal adieu gesagt hatte: «Lebe wohl.»

Ohne auch nur ein Wort blickten sie sich lange an. Dann sagte seine Frau leise: «Vielleicht gab ihr das Leben nie die Chance, eine grossartige Mutter zu sein.»

Und hinten im Kinderzimmer, da lag dieses Mädchen in seinem Bett und wünschte sich wie schon seit manchem Abend nichts mehr auf der Welt, als bloss eine Gutenachtgeschichte.

* * *

Er machte den Fernseher aus. «Denkst du, sie war ein guter Mensch?» Auch wenn seine Frau die Antwort darauf nicht kannte, war sie froh über seine Frage. «Es gibt Dinge im Leben, die wird man nie verstehen», sagte sie. «Doch das allein sollte uns nicht dazu verleiten, über den Menschen zu richten.» Ohne Groll zwar, doch schüttelte er den Kopf und gab ihr damit zu verstehen, dass sie ihm seine Frage nicht beantwortet hatte.

«Ich möchte dir etwas zeigen.» Sie stand auf, ging in die Küche, kam wieder zurück und bat ihn, nochmals den Fernseher einzuschalten. «Kannst du es sehen?» Sie legte ihm eine Schachtel mit Streichhölzern in die Hand. Wie gerade die Nachrichten über den Bildschirm ins Wohnzimmer flimmerten, dieses einander zugefügte Leid und eine Welt da draussen, wie sie in Flammen steht – da plötzlich ahnte er, worauf seine Frau hinauswollte.

* * *

«Das war eine wundervolle Geschichte. Erzählst du mir morgen wieder eine?»«Nichts wünschte ich mir mehr auf der Welt.» Dann deckte er seine Tochter zu und nur Augenblicke später, als er unter der Tür stand, fragte er in den Raum: «Bist du glücklich?» Sie schlief bereits. Vorne wartete seine Frau auf ihn. «Ich danke dir», sagte er jetzt. «Ich danke dir aus tiefstem Herzen.» Er hatte verstanden.

* * *

«Wer weiss das schon, welches Leid ihr Leben erst in Brand gesteckt hat», hatte seine Frau an jenem Abend gesagt, als sie ihm die Schachtel mit den Streichhölzern in die Hand gelegt hatte.

Und dann nahm sie eines heraus. Hielt es vorsichtig zwischen ihren Fingern. Dieses eine Streichholz. «Das ist unser Leben. Die Frage ist, was wir daraus machen. Für uns und für unsere Mitmenschen. Wir können einen Brand legen. Oder aber ein Feuer entfachen.

Diese Welt. Was immer wir tun. Sie liegt auch in unseren Händen. Du und ich, wir haben jeden Tag die Möglichkeit, gute Eltern zu sein, indem wir es weiterreichen – dieses Feuer der Menschlichkeit, das auch wir erfahren.» Und dann zündete sie es an. Sie lächelte. «Und jetzt geh’ und verändere die Welt. Deine Tochter wünscht sich eine wundervolle Geschichte.»

* * *
An Heiligabend erfüllten die Kerzen den Raum mit einer unsagbaren Wärme. Und überall auf Erden entfachten Menschen von neuem dieses Feuer der Hoffnung. Auf dass die Welt etwas weniger brennen möge.

Ronny Wittenwiler


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