Abenteuer Liebe - Zweiter Teil: Die Zwillingsbrüder
31.01.2018 LiteraturWAS BISHER GESCHAH:
Lydia ist eine vielbeschäftigte junge Frau: Sie führt in Rheinfelden eine Physiotherapiepraxis und hilft ihrer Mutter Therese in Mumpf auf dem Reiterhof. Dort lernt sie den deutschen Assistenzarzt Bernd kennen. Zwischen den beiden knistert es. Als ein älterer Mann auf der Ranch auftaucht, verhält sich Bernd plötzlich seltsam. Noch mehr Rätsel gibt aber Therese auf: Seit dem Tod von Lydias Vater hatte kein Mann ihr Vertrauen gewinnen können, doch das scheint bei diesem Unbekannten anders zu sein. Wer ist der mysteriöse Mann mit dem Hut, dem langen Mantel und den hohen Stiefeln?
Die LeserInnen haben entschieden: Der ältere Herr, der plötzlich auf der «Fricktaler Ranch» auftaucht, gibt sich als Bruder von Lydias verstorbenem Vater aus. Lydia ist durcheinander, vor allem auch, weil ihre Mutter sich verändert. Halt findet Lydia bei Bernd. Doch da erfährt sie etwas äusserst Merkwürdiges.
Das Gespräch zwischen dem Unbekannten und Therese dauert lange. Lydia und Bernd versorgen in dieser Zeit ihre Pferde. Lydia ist nervös und fahrig, lässt erst das Zaumzeug und danach auch den Sattel fallen. «Verdammt!», flucht sie laut. «Ist alles okay mit dir, Lydia?», fragt Bernd. «Ja, was soll denn sein?» «Du bist so…» «Ich bin ganz ruhig», herrscht Lydia Bernd an. «Kennst du den Kerl etwa?» «Ich habe ihn ja gar nicht richtig gesehen. Aber irgendwie…» In diesem Moment fährt der Unbekannte mit seinem grossen, dunklen Wagen davon. Lydia rennt sofort zu ihrer Mutter in die Wohnstube: «Mama, wer war das?» «Lydia…» «Mama?» «Lydia, das war Rainer. Er sagt, er sei der Bruder deines Vaters…» «Bitte?» «Ja, Gabriels Bruder. Er ist dein Onkel.» «Hast du ihn erkannt?» «Das ist alles so lange her. Ja, er gleicht irgendwie deinem Vater, die Gesichtszüge, die Grösse… aber, ach, dein Vater und ich waren ja nicht lange zusammen…» Sie hält inne und starrt zum Fenster hinaus. Nach einer Weile sagt sie: «Gabriel erwähnte mal, dass er einen Bruder habe. Aber ob der Rainer hiess…»
«Was will er?»
«Pferde kaufen.»
Lydia spult die folgenden Tage einfach irgendwie ab. In ihrer Physiotherapiepraxis redet sie mit ihrer Mitarbeiterin Jessica nur das Nötigste. Selbst deren Hund Miso beachtet sie kaum. Auf dem Reiterhof greift sie dem Stallburschen Karol unter die Arme, hilft Stefan, dem alten Freund der Familie, bei allerlei Reparaturarbeiten und reitet zwischendurch auch mit Bernd aus. Doch auch ihm gegenüber verhält sie sich wortkarg. Wenn er sie et was fragt, gibt sie ihm nur mürrisch Antwort.
«Was beschäftigt dich denn, Lydia?», bohrt Bernd nach.
«Lass mich in Ruhe!»
«Bist du wegen Rainer so…»
«Hör bloss auf damit. Der Kerl nistet sich hier ein, merkst du das nicht?»
Tatsächlich ist Rainer fast jeden Tag auf der Ranch. Lydia geht ihm aus dem Weg. Von ihrer Mutter hat sie aber erfahren, dass er schon fünf Pferde gekauft und drei neue Kunden gebracht habe: Reiterinnen und Reiter, die auf der «Fricktaler Ranch» ihre Pferde in Pension geben. Therese ist begeistert davon, so würden ihre finanziellen Sorgen endlich kleiner.
Als Lydia eines Abends von einem langen Tag in der Praxis mit ihrem E-Bike zur Ranch radelt, kommt auf der schmalen Strasse Rainer mit seinem Wagen entgegen. Er hält an und steigt aus.
«Lydia!», ruft er.
«Ich habe es eilig.»
«Lydia, ist es nicht an der Zeit, dass wir reden?»
«Ich wüsste nicht, was…»
«Ich bin Gabriels Bruder. Interessiert dich denn gar nicht…»
«Nein. Ihr Bruder, der mein Vater sein soll, ist einfach abgehauen und hat meine Mutter im Stich gelassen. Das ist 26 Jahre her. Uns geht es gut. Wir sind eine Familie. Wir brauchen keine Verwandten von irgendwelchen Halunken!»
«Gabriel war kein Halunke. Und ich auch nicht.» Er nimmt seinen Hut ab und streicht sich durch seine weissen, halblangen Haare. «Wir waren jung, es war eine andere Zeit. Gabriel und ich gingen auf Weltreise. In Indien haben wir uns getrennt. Er wollte dort bleiben, mich zog es weiter. Ich landete schliesslich in China und habe dort mein Geschäft aufgebaut. Irgendwann habe ich dann erfahren, dass Gabriel verschwunden ist. Und viele Jahre später kam aus, dass er verstorben ist. Er soll lange Zeit in Goa gelebt haben. Sein Leichnam wurde aber nie gefunden.»
«Wissen Sie was…»
«Nenn mich doch Rainer», unterbricht er Lydia. «Wollen wir uns nicht…» «Verschwinden Sie einfach und lassen mich mit Ihren Hippie-Geschichten in Ruhe.» «Das kann ich nicht…» Lydia tritt in die Pedale und radelt davon. Als sie die Ranch erreicht, stürmen sofort Karol und Stefan auf Lydia zu. «Können wir mit dir reden?» «Klar!» «Seit dieser Rainer da ist, ist Therese ganz anders.» «Wie meinst du das, Stefan?» «So unnahbar. Sie redet kaum ein Wort mit mir.» «Dieser Rainer wird nicht lange hier bleiben, vertrau mir.» «Du weisst doch, dass ich und deine Mutter…» «Ja, dass ihr seit einer Ewigkeit befreundet seid und es nie fertig gebracht habt, ein Paar zu werden. Und jetzt taucht Rainer auf. Bist du etwa eifersüchtig?» «Lydia…» «Der bringt alles durcheinander», mischt sich jetzt der Stallbursche ein. «Er will mir sagen, was ich zu tun habe.» «Ich werde mit meiner Mutter reden.»
Auch am nächsten Tag hat Lydia in ihrer Praxis ein volles Programm. Abends steht wieder eine Reitstunde mit Bernd an, auf die sie sich trotz den Turbulenzen der letzten Tage freut. Doch zuerst will sie zu ihrer Mutter. Sie findet sie in der Stube. Therese sitzt am Boden und blättert in alten Fotoalben. «Mama, was machst du da?» «Ich suche Fotos von deinem Vater.» «Ach ja? Du hast immer gesagt, es gäbe keine.» «Ja, trotzdem hoffe ich, dass Rainer oder Gabriel irgendwo auf einem Foto eines Festes oder…» «Mama, was ist los mit dir? Auch Stefan und Karol sagen, du hättest dich verändert, seit dieser Rainer da ist.» «Er ist ein netter Mann. Er kann vielleicht ein bisschen Licht in die Vergangenheit bringen. Ich habe deinen Vater nämlich geliebt…» «Er ist abgehauen, Mama!» «Ja. Geliebt habe ich ihn trotzdem. Rainer ist sein Bruder, sein Zwillingsbruder.» «Sein was?» «Zwillingsbruder. Ich habe das auch nicht gewusst.»
«Was hast du überhaupt gewusst?!» Lydia schreit ihre Mutter jetzt richtig an. «Du hast einen Kerl geliebt, der dich hat sitzen lassen. Und jetzt kommt 26 Jahre später der Zwillingsbruder angetanzt und macht einen auf reich und wichtig und auch noch auf Familie. Mama, ICH bin deine Familie. Und Stefan könnte es auch sein. Und Karol. Wir sind doch deine…»
Weinend stürmt Lydia aus dem Haus und rennt in den Stall zu den Pferden.
«Lydia, bist du da?», ruft plötzlich jemand. Lydia erkennt die Stimme, antwortet aber nicht. Sie hockt zusammengekauert auf einer Strohballe und hat ihren Kopf auf die verschränkten Arme gelegt.
«Lydia, da bist du ja, ist alles okay mit dir?»
«Nein, Bernd, nichts ist ok.»
«Darf ich mich zu dir setzen?»
«Nein.»
Bernd setzt sich trotzdem zu ihr und legt den Arm um sie. Lydia reagiert nicht. Bernd streicht ihr übers blonde Haar. Da hebt Lydia den Kopf, schaut Bern mit verweinten Augen an. Bernd nimmt sie in seine Arme. Lydia beginnt erneut zu schluchzen.
Als sie sich wieder etwas beruhigt hat, sagt Bernd leise: «Was hältst du davon, wenn wir heute mal nicht ausreiten, sondern…»
«Oh, Mist!» Lydia schreckt hoch. «Du hast heute ja Reitstunde bei mir!»
«Hätte ich, ja. Aber was hältst du von einem Spaziergang?»
«Ohne Pferde?»
«Wir können auch mit den Pferden einen Spaziergang machen.»
Eine halbe Stunde später laufen Bernd und Lydia mit Sweet Carolina und Mystery of the Night, Lydias Lieblingspferd, über die Feldwege und durch die Wälder. Lydia wird immer gesprächiger. Sie zeigt Bernd die Plätze, an denen sie als Kind mit ihrer Mutter zum Bräteln war, sie erzählt ihm, wie sehr sie die Jugend im Fricktal genossen habe, das Leben auf dem Land und doch so nah an der Stadt. Aber eigentlich sei sie schon ein Landei, betont sie lachend.
Auf einer Waldlichtung binden sie ihre Pferde an einem Baum an und setzen sich auf einen Holzstamm.
«Siehst du den Rhein?», fragt Lydia. «Da zwischen den Bäumen. Wenn die Bäume Blätter haben, sieht man ihn nicht mehr. Aber jetzt im Winter…» Sie zeigt gegen Norden. «Da hinten ist irgendwo deine Heimat.» «Na ja, meine alte Heimat. Hier ist meine neue Heimat.» «Hier? Im Fricktal?» «Warum nicht? Mir gefällt es hier.» «Was gefällt dir denn? Die Landschaft?» «Ja. Die auch. Die Leute vor allem. Und…» Er zögert. «Und?» «Ich weiss nicht.»
«Du weisst es nicht?» Lydias Augen funkeln. «Du gefällst mir», sagt Bernd und schaut verlegen durch die Bäume in die Ferne. «Ach so», sagt Lydia trocken. Sie schweigen eine Weile. «Du sagst nur ‹ach so›?» «Ja. Mehr gibt es nicht zu sagen.» Dann küsst sie ihn. Zuerst zart. Dann leidenschaftlich. Es ist schon spät, als sie zurückkommen. Bernd muss zum Nachtdienst ins Spital. Lydia nimmt die Pferde und gibt Bernd noch einen langen Kuss. Dann bringt sie die Pferde in den Stall. Bei der Waschbox sieht sie Stefan und Karol miteinander reden. Als sie Lydia entdecken, kommen sie auf sie zu. «Lydia, ich habe mich ein bisschen umgehört», sagt Stefan. «Das Fricktal ist klein, da weiss man einiges über die Leute.» «Ach ja, was weiss man denn?» «Gabriel und dein Vater…» Er macht eine kurze Pause. «Also Gabriel und Rainer waren tatsächlich Zwillingsbrüder.» «Aha.» «Aber Rainer ist nicht einfach so verschwunden.» «Was denn?» Stefan und Karol starren Lydia lange an. «Na, was denn?» Stefan flüstert ihr etwas zu. Darauf stürmt Lydia aus dem Stall.