Und fliege mit mir übers Meer

  21.12.2017 Literatur

Eine Weihnachtsgeschichte

Fortsetzung von gestern

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Für die Liebe meines Lebens, stand auf dem Umschlag geschrieben und darunter, in kleiner Schrift: öffnen an Heiligabend.

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Winter legte sich übers Land. Ihr Mann kümmerte sich liebevoll um sie. In ihren klaren Momenten war er glücklich. Geduldig blieb er, wenn Alltägliches ihr zum Stolperstein wurde. So oft nahm er sie dann in den Arm. «Ich bin bei dir.» Es war, als schöpfte sie aus seiner Fürsorge, seiner Nähe, eine unbändige Kraft. Eine Kraft, die ihre Neugierde lebendig hielt. «Erzähle mir davon. Immer und immer wieder», sagte sie dann. Wie sie sich kennenlernten, sich lieben lernten. Der eigene Garten. Ferien am Meer. Die Hochzeit, ein rauschendes Fest, sie ganz in Weiss, eine wunderschöne Braut, und er voller Stolz, beinahe gestorben vor Aufregung. Die Geburt ihrer Tochter. Zwei Jahre später schenkte sie ihm einen Sohn. Unendliches Glück. «Ich kann es sehen», sagte sie und bat ihn, nicht aufzuhören, «niemals, hörst du. Höre nie auf, mir davon zu erzählen. Ich kann es sehen». Sie nahm seine Hand und drückte sie an ihr Herz: «Ich kann es sehen. Hier drin.»

Ihre Bilder im Kopf wurden schemenhafter.

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Er nahm ein Streichholz aus der Schachtel und zündete drei Kerzen an. Sie neigte den Kopf zur Seite, dachte angestrengt nach und fragte schliesslich: «Du lässt eine aus?» Es war ein Sonntag, der Dritte Advent. Er setzte sich zu ihr. «Ich weiss nicht, wie ich das ohne dich schaffe. Und ich meine nicht nur die Zubereitung der Dörrbohnen an Heiligabend.» Sie legte ihre Hand auf seine und lächelte: «Ich an deiner Stelle würde es mit zwei Dingen versuchen: mit Vertrauen und einer Prise Salz.» Weihnachten war ihr heilig. Alle vereint, die eigenen Kinder mit ihren Familien, die Grosskinder, da begannen ihre Augen zu leuchten. Sie kochte mit Leidenschaft, es duftete nach Dörrbohnen und Besinnlichkeit lag im Raum. Sie liebte es. Wie sehr sie dieses Fest doch liebte. «Ich habe es eurer Mutter versprochen», liess er die Kinder wissen. «Ich habe versprochen, ihr diesen Wunsch zu erfüllen: dass wir Weihnachten noch einmal bei uns zuhause feiern.» Sie würden da sein, sagten sie, gewiss. Die ganze grosse Familie würde da sein. An Heiligabend.

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Salz! Er brauchte unbedingt noch eine Prise Salz. Das Wasser kochte. Und er fühlte tiefe Dankbarkeit.

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Die Tochter half ihm beim Abwasch. «Ich bewundere dich», sagte sie in einem Ton tiefster Aufrichtigkeit. «Wie du diesen Weg gehst mit Mutter, deine Zuversicht. Ich bewundere dich.» Er legte den getrockneten Teller zur Seite, hielt inne für einen flüchtigen Augenblick und deutete dann hinüber ins Wohnzimmer. «Du hast ihre Augen», sagte er jetzt. Dann umarmte er seine Tochter. Oben im Schlafzimmer, auf seinem Nachttisch, lag ein offener Briefumschlag.

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Für die Liebe meines Lebens

Ich danke dir von ganzem Herzen. Für deine Liebe. Für deine Güte. Jeden einzelnen Tag habe ich sie gespürt.

Du und ich. Wir können es nicht ändern. Vielleicht wird mir die Zeit irgendwann meine Bilder im Kopf nehmen. Vielleicht werde ich schon bald nicht mehr die sein, die ich war. Antworten, die du suchst, werde ich dir eines Tages vielleicht nicht mehr geben können. Doch wirst du mich immer wieder finden als diejenige, die ich war. Mit meiner ganzen Liebe und Güte zu dir. Denn all das von mir lebt weiter. So, wie heute, an diesem Heiligen Abend. Durch unsere Kinder und Kindeskinder. Sie sind ein Teil von mir, genauso wie von dir. Sie alle sind das Vermächtnis unserer Liebe und leibhaftiges Zeugnis, dass das, wofür ich gelebt habe, mit meinem Vergessen nicht endet. Sie sind unauslöschliche Spuren meines Menschseins.

Auch wenn ich auf eine Reise gehe, die wir uns so nicht gewünscht haben. Erzähle mir weiter. Immer und immer wieder. Denn höre ich deine Stimme, dann wird mein Herz mir sagen: Es war gut. Und nichts ist endgültig.

In Liebe Deine Frau

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Im darauffolgenden Frühling kehrten die Vögel von ihrer Reise zurück.

Ronny Wittenwiler


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